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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Markus Väth aus managerSeminare 291, Juni 2022
Jede Epoche hat ihren eigenen Kapitalismus, ihre individuelle Interpretation von Ökonomie, Gewinnstreben, Gemeinwohl und der Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft: angefangen vom rohen Kapitalismus der frühen Industrialisierung über den sozial orientierten New Deal der USA vor dem Zweiten Weltkrieg, den marktradikalen britischen Manchester-Kapitalismus unter Margaret Thatcher, die US-amerikanischen neoliberalen Reaganomics der 1980er-Jahre bis hin zum kritischen Kapitalismus im Nachgang der Finanzkrise 2008/2009. Das kapitalistische System ist nicht der unverrückbare und menschenfeindliche Monolith, als der er gern beschrieben wird. Vielmehr erzeugen jede Gesellschaft und jede Epoche ihre eigene Spielart von Kapitalismus – bis zur aktuellen Variante des gemeinwohlorientierten Stakeholder Value unserer Tage.
Die Orientierung am Stakeholder Value bedeutet, dass ein Unternehmen die Interessen verschiedener Anspruchsgruppen, der Stakeholder, in seine Geschäftspolitik integriert. Eines der markantesten Kennzeichen dieses Stakeholder-Value- Konzepts ist die Verlagerung weg von einer individualistischen hin zu einer kollektivistischen Ethik. Grundlage für die Beurteilung von moralischem Verhalten ist nun nicht mehr die juristisch und ethisch identifizierbare Person. Stattdessen werden – neben den üblichen Kategorien von Mitarbeitenden, Kunden, Lieferanten etc. – gesellschaftliche Gruppen wie Männer und Frauen, Weiße, People of Color, LGBTQ (Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht dem Modell von weiblich-männlich entspricht), Klimaaktivisten und so weiter als relevante Kollektive verstanden.
Die Durchsetzung solcher kollektiven Interessen ist so etwas wie der Wandlungsschmerz unserer aktuellen demokratischen Gesellschaften. Natürlich kennen wir Tarifkonflikte, Streiks oder Demonstrationen, mit denen auch schon früher versucht wurde, Vorteile für Kollektive herauszuholen – für die Gewerkschaften, die Studenten oder die Pflegekräfte. Doch es gibt einen gravierenden Unterschied der heutigen Kollektive, die im politischen Raum agieren, zu solchen Anspruchsgruppen. Der Unterschied besteht in der hohen persönlichen Identifizierung mit dem Kollektiv und der damit oft auch verbundenen Aktivierung von Feindbildern.
Unter rein betriebswirtschaftlichen Aspekten ist mit den neuen Kollektiven nicht umzugehen. Denn die von ihnen geäußerten Ansprüche (etwa in Sachen Diversität, Rassismus, Umweltschutz, Kolonialismus) reichen weit hinein in die traditionell als wirtschaftlich nachrangig gehandelten Themen wie Unternehmenskultur, Fairness, Persönlichkeitsentwicklung oder Gesundheit. Im Sinne von Max Weber dringen somit die politische und kulturelle Wertsphäre immer tiefer in die Wertsphäre der Wirtschaft ein und konfrontieren sie mit moralischen und kulturellen Argumenten, die nicht rein finanziell zu beantworten sind. Plötzlich wird von Unternehmen verlangt, ethisch zu handeln, ihrem „strukturellen Rassismus“ den Kampf anzusagen oder Ausgleichszahlungen an afrikanische Staaten zu leisten, da sie von der Kolonialisierung und Unterdrückung durch europäische Staaten enorm profitiert hätten.
Oft werden Unternehmen von der Heftigkeit der geäußerten Ansprüche überrascht und präsentieren sich wenig vorbereitet. Viele bemühen sich aber auch zunehmend, im Zeichen eines „Virtue Signalling“ – also indem sie Tugend signalisieren – dem Ruf des Stakeholder-Value-Prinzips zu entsprechen. Aber das halte ich für nicht ungefährlich. Denn Unternehmen, die sich darauf einlassen, geraten in Gefahr, von einer dauererregten Öffentlichkeit auch bei kleinen Verfehlungen mit einem Shitstorm bestraft zu werden. Der Grund hierfür liegt in eben jener moralischen Argumentation, auf die sich immer mehr Unternehmen einlassen, die beispielsweise „grün“ werden, sich als besonders sozial oder generell als moralisch gut präsentieren wollen. Machen solche moralisch aufgeladenen Unternehmen dann Fehler, werden sie nach eben diesen moralischen Maßstäben eingeschätzt und abgeurteilt.
Die Revolution des Stakeholder Value besteht in der Moralisierung der Wirtschaft, mit allen positiven und negativen Folgen. Unternehmen als Akteure der Gesellschaft werden nun aktiv herausgefordert, zu gesellschaftlichen Fragen Stellung zu beziehen, Haltung zu zeigen und sich bewusst mit neuen Anspruchsgruppen auseinanderzusetzen. Das ist zwar im Grundsatz zu begrüßen. Doch müssen sich Unternehmen sehr bewusst mit einem Wandel zum Stakeholder Value auseinandersetzen. Denn – was, wenn die moralisch guten Werte von heute die unerwünschten von morgen sind? Was, wenn die Gesellschaft immer neue Anspruchsgruppen erzeugt, die ihren Tribut fordern? Heute sind es die Frauen, People of Color oder Migranten. Morgen werden es vielleicht die arbeitslosen Weißen über 50 sein. Ja, das hört sich wie eine absurde Provokation an, ist aber bereits dabei, Wirklichkeit zu werden. So hat ausgerechnet die Antidiskriminierungsstelle der Berliner Humboldt-Universität in einer Stellenausschreibung betont, keine Person weißer Hautfarbe einzustellen: „Wir bitten [...] weiße Menschen, von einer Bewerbung für diese Beratungsstelle abzusehen“, hieß es dort. Erst nach heftiger Kritik korrigierte die Universität die Stellenanzeige.
Das Schwarz-Weiß-Denken vieler Kollektive ist aber nicht das einzige Problem. Ein ebenso großes Risiko liegt im undemokratischen Prozess der wirtschaftlichen und politischen Zielbildung der Kollektive. Will heißen: Wer soll eigentlich bestimmen, wie Investitionen und Gewinne „grün“ oder „feministisch“ umverteilt werden? Das betroffene Unternehmen? Der Staat? Ein Verbund „sozialer“ Kollektive? Wenn Ökonomie moralisch wird, was passiert dann mit Waffenproduzenten und Herstellern von Alkohol und Zigaretten? Wer schützt die Gesellschaft davor, dass nicht wieder einige mächtige Menschen und Lobbyisten den Stakeholder-Kapitalismus nach ihrem Willen beeinflussen?
Diese und andere Fragen werden derzeit rund um das Thema Stakeholder Value so gut wie nie gestellt. Es ist insofern nicht zu Ende gedacht. Ich denke aber, dass ein wirklich sozialer Kapitalismus solche Fragen beantworten muss beziehungsweise, dass wir uns als Gesellschaft in demokratischen Prozessen damit beschäftigen müssen, Antworten zu finden, bevor wir uns an die Umsetzung eines ökonomischen Musterwechsels machen.
Der russisch-ukrainische Krieg zeigt derzeit, dass so manches eindimensionale moralische Weltbild der Realität nicht standhält. Auf einmal sind etwa Ölproduzenten in der öffentlichen Wahnehmung nicht mehr die einseitig Bösen. Man kann hier in Echtzeit beobachten, wie das „Blame Game“ ethisch verantwortlichen Wirtschaftens neu justiert wird.
Das Stakeholder-Value-Prinzip ist – genauso wie der Shareholder-Value-Ansatz in seinen Anfangsjahren – ein bedenkenswertes Konzept. Wenn wir es allerdings unkritisch umsetzen, werden wir ebenso ungerechte und undemokratische Auswüchse erleben, wie dies beim traditionellen Shareholder-Kapitalismus der Fall war. Sich einfach gut fühlen und denken „Das Gute, das sind wir“, ist leider ebenso unzutreffend wie arrogant.
Vom amerikanischen Schriftsteller Mark Twain ist folgendes Zitat überliefert: „Gut sein ist edel. Aber anderen zeigen, wie gut sie sein sollten, wirkt edler und macht nicht so viel Mühe.“ Twain war ein Meister der treffsicheren Ironie, der anderen Menschen mit liebevoller Genauigkeit den Spiegel vorhielt. Er erkannte genau, dass sich der Anspruch an die eigene Sittlichkeit mit dem Anspruch an das ethische Wohlverhalten anderer mindestens die Waage halten sollte – und griff damit ein jahrtausendealtes Motiv der christlichen Bergpredigt auf. In den Worten Martin Luthers: „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“ Beide, Mark Twain und Martin Luther, wussten um die Gefahr der ethischen Selbstüberhöhung und die Gefahr der moralinsauren Heuchelei. Der Stakeholder-Value-Ansatz ist ein interessantes Konzept für die Zukunft, aber: bitte mit Augenmaß, demokratischer Kontrolle und ohne moralischen Hochmut.
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