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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Alexander Brungs aus managerSeminare 316, Juli 2024
Erst verstehen, dann verändern: Warum Coaching und Therapie der gleichen Prozesslogik folgen
Erstes Missverständnis: Im Coaching geht es ums Berufliche, in der Therapie ums Persönliche
Zweites Missverständnis: Coaching fokussiert Zukünftiges, Therapie Vergangenes
Handlungsfähig oder nicht handlungsfähig: Das Kernkriterium für die Entscheidung zwischen Therapeutin und Coach
Drittes Missverständnis: Im Coaching geht es primär um Psycho-Prophylaxe
Die (psychische) Belastung in unserer Gesellschaft hat zugenommen. Pandemie, Krieg, wirtschaftlicher Druck hinterlassen nicht nur kollektive Spuren, sondern haben auch Folgen für das individuelle Denken und Fühlen. Kommen dann noch private Probleme oder Herausforderungen im Beruflichen hinzu, kann leicht der Punkt kommen, an dem man das Gefühl hat, alleine nicht weiterzukommen und professionelle Hilfe zu brauchen. Aber an wen wenden? An eine psychotherapeutische Praxis – wohlwissend, dass viele hierzulande extrem überlaufen sind? Tatsächlich sind Wartezeiten auf eine Behandlung von einem halben bis zu einem Jahr keine Seltenheit. Oder „reicht“ auch ein Coach, beziehungsweise ist ein solcher in meiner Situation vielleicht sogar die bessere Wahl? Wie lässt sich das beurteilen? Und einmal ganz grundsätzlich gefragt: Wie unterscheiden sich Therapie und Coaching überhaupt?
Tatsächlich weisen Therapie und Coaching viele Gemeinsamkeiten auf. Sowohl Therapeuten als auch Coachs fungieren als Gesprächspartner für ihre Klientinnen und Klienten, und bei beiden Formaten ist die Therapeut-Klienten- respektive Coach-Klienten-Beziehung der tragende Wirksamkeitsfaktor. Zudem kommen sowohl in der Therapie als auch im Coaching wissenschaftlich fundierte Methoden und Modelle zum Einsatz, wobei darüber hinaus ein großer Teil der in der Coachingpraxis angewendeten Methoden und Verfahren ihren Ursprung in psychologischen beziehungsweise psychotherapeutischen Schulen haben. Viele von ihnen stammen etwa aus der Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie, aber auch humanistische Therapieansätze kommen im Coaching zur Anwendung.
In der Psychotherapie werden diese Methoden zumeist genutzt, um sowohl Gedanken und Gefühle als auch immer wiederkehrende Handlungsmuster in ihrer Entstehung und Wirkung zu verstehen beziehungsweise bewusst zu machen. Daraufhin versuchen Patient und Therapeutin diese Muster so zu verändern, dass sie den eigenen Bedürfnissen gerecht(er) werden und der Leidensdruck abnimmt bzw. bestenfalls eliminiert wird.
Analog dazu geht es auch im Coaching in der Regel zuerst um Einsichts- und Erkenntnisprozesse, die weitere Schritte zur Lösung und Weiterentwicklung ermöglichen. Denken wir an eine Führungskraft, die nach wiederholt wahrgenommener Kritik an ihrem angeblich herrischen Führungsstil ein Coaching in Anspruch nimmt. Dominantes Führungsverhalten, gepaart mit einem aggressiven und verletzenden Verhalten gegenüber der Belegschaft, kann ein klarer Fall von Überkompensation sein. Man gibt sich besonders kompetent und sicher und agiert selbstherrlich, obwohl – oder weil – man sich im Grunde unsicher fühlt und womöglich uneingestanden auch Angst davor hat, selbst dominiert zu werden oder hilflos zu sein. Das Bewusstwerden der Motivation hinter dem Verhalten bildet dann die Grundlage einer mentalen Einstellung, die Veränderung ermöglicht.
Sind wir damit vielleicht bereits bei des Pudels Kern, der Trennung von beruflichen und privaten Anliegen? Anders gefragt: Gehe ich also mit einem beruflichen Anliegen zum Coach, mit einem privaten oder persönlichen zur Therapeutin? Ist Coaching sozusagen „Berufssache“ und Therapie „Privatsache“? Ganz so einfach ist es nicht. Zwar wird Coaching sicher häufiger aufgrund von Fragestellungen oder Problemen aus dem beruflichen Kontext heraus veranlasst als eine Psychotherapie. Allerdings ist es leicht einzusehen, dass charakterliche Prägungen aus Kindheit, Jugend und Familie nicht plötzlich verschwinden, wenn wir die Wohnungstür hinter uns schließen und uns zum Arbeitsplatz aufmachen.
Wir alle nehmen in unserem Leben, mal besser, mal weniger erfolgreich, unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Anforderungen ein, aber wir bleiben grundsätzlich dieselbe Person mit den gleichen Prägungen, Routinen, Verhaltensmustern. Diese mögen sich vielleicht unterschiedlich zeigen und auswirken, wurzeln aber eben alle in ein und derselben Person. Es ist diese Person, die sich in einen Coachingprozess begibt; nicht die Rolle. Das kann bei Buchung für manche Coachees noch einen anderen Anschein haben, wird sich in einem verantwortungsvoll geführten Prozess aber bald klären. Von Bedeutung ist dann häufig die Arbeit daran, was sich wie auf welche Rolle auswirkt, beziehungsweise auswirken oder nicht auswirken soll. Lange Rede, kurze Botschaft: Sowohl im Coaching als auch in der Therapie geht es um die „ganze“ Person. Ein berufliches Anliegen kann im Prozess geradewegs in einen persönlichen Kontext führen und umgekehrt. Die – durchaus verbreitete – Vorstellung, dass Coaching sich um „Berufliches“ kümmert und Therapie um „Privates“ ist also ein Missverständnis.
Der Coach fragt, die Klientin antwortet. Das ist die klassische Rollenverteilung im Coaching. Bei der Coachauswahl sollte es genau andersherum laufen. Um herauszufinden, ob ein Coach der Richtige für einen ist, fragt man ihn am besten – etwa nach seinem Selbstverständnis, seinem Verhalten in Krisen und seinen Vorbildern.
Mindestens ebenso verbreitet ist ein weiteres Missverständnis zum Thema: Immer wieder ist zu hören, in einer Psychotherapie – gedacht wird hier offenbar vor allem an tiefenpsychologische Verfahren – beschäftige man sich mit der Vergangenheit, wohingegen Coaching vom gegenwärtigen Standpunkt aus Zukünftiges ins Auge fasse. Wäre es so, bestünde kaum ein Unterschied zwischen Coaching und Dressur. Um auch nur den simpelsten funktionalen Zusammenhang zu erfassen – also mögliche Ursachen, Gründe, Motive mit möglichen Wirkungen in Beziehung zu setzen –, ist ein Blick in die „Vergangenheit“ notwendig; um ein Handlungsmuster als solches verstehen zu können, müssen wir das Verhalten einer Person in unterschiedlichen Situationen über Zeiträume hinweg beobachten. Um eine Beschäftigung mit Vergangenem kommen wir im Coaching also gar nicht herum, wenn es irgendwie sinnvoll um persönliche Entwicklung gehen soll. Auch eine Faustformel à la „Willst du etwas bewältigen, geh zur Therapeutin, willst du etwas erreichen, geh zum Coach“ funktioniert als Entscheidungshilfe also nicht.
Ob im beruflichen oder privaten Kontext – bei der Bewältigung von Herausforderungen und der Verwirklichung von Zielen kann ein Coach ein hilfreicher Begleiter sein. Wie aber lässt sich sicherstellen, dass man an keinen unseriösen gerät?
Betrachten wir jedoch den Kern des jeweiligen Formats, also das, was Coaching bzw. Therapie im Wesentlichen kennzeichnet und ausmacht, wird der entscheidende Unterschied deutlich. In einem Coaching geht es im Grundsatz darum, sich mit professioneller Unterstützung aus eigener Kraft weiterzuentwickeln beziehungsweise eigene Ressourcen zu aktivieren, um Herausforderungen konstruktiv und zielorientiert anzugehen. Ein guter Coach führt seine Klientinnen und Klienten dazu durch einen Prozess der aufmerksamen Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, im Rahmen dessen neue Perspektiven erschlossen, Verhaltensoptionen eröffnet und Klarheit über Ziele und Wege geschaffen werden. Coaching ist also im Kern eine Maßnahme, um Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenzen von Personen zu stärken, die nicht aufgrund psychischer Belastungen fundamental darin eingeschränkt sind. Es kann dann wirksam werden, wenn die Handlungskompetenz im Grundsatz ungestört ist und Unterstützung bei ihrer Ausweitung als hilfreich erfahren wird.
Für Therapien hingegen sind die Elemente der relevant eingeschränkten Handlungsfähigkeit, des Krankheitsgefühls und empfundenen Leids wesentliche Faktoren. Am Anfang steht eine Diagnose nach medizinisch-psychologisch anerkannten Kriterien. Darauf fußt dann die Therapie mit dem Ziel einer Heilung (technisch: möglichst Beseitigung der „Störung mit Krankheitswert“).
Aus Klientenperspektive betrachtet stellt sich der wesentliche Unterschied so dar: Während Coaching gesunde, handlungsfähige Menschen adressiert, richtet sich Psychotherapie an Menschen, die sich durch ein seelisches Problem im Alltag derart manifest eingeschränkt fühlen, dass sie diesen aus eigener Kraft nicht mehr hinreichend bewältigen können. Ein entscheidendes Kriterium – das auch im eigenen Fall hinsichtlich der Frage „Coach oder Therapeutin?“ angelegt werden kann – ist mithin der Leidensdruck.
Beispielsweise haben viele Menschen Prüfungsangst. Auffindung und Einübung eines guten und sicheren Umgangs mit der Angst, vielleicht sogar ihre Beseitigung, sind ein geeignetes Vorhaben für einen Coachingprozess mit dem Ziel einer besseren „Performance“ in Prüfungs- oder allgemein Expositionssituationen. Wenn diese Angst aber so ausgeprägt ist, dass Hinausschieben oder Vermeiden von Prüfungen mit eigenen Lebenszielen in massiven Konflikt gerät oder die Berufstätigkeit an sich zu gefährden droht, ist sie von pathologischem Charakter und therapiebedürftig.
Man darf sich nun aber nicht zu der Annahme verleiten lassen, Coaching sei eine Maßnahme zur weiteren Optimierung bereits gut „funktionierender“ Menschen, wohingegen die „funktionseingeschränkten“ Leidenden von der Psychotherapie aufgefangen würden. Auch ist Coaching nicht einfach Prophylaxe, wo Psychotherapie Erkrankte behandelt. Jedes (gute) Coaching wird an irgendeinem Punkt mindestens mit Unklarheiten über, wenn nicht Zweifeln am „Funktionieren“ befasst sein. Und im Erfolgsfall wird es zwar auch prophylaktische Wirkung haben, aber sich ansonsten keinesfalls in der Idee einer vorbeugenden Psycho-Gesundheitsfürsorge erschöpfen. Für die meisten Coachings gibt es konkrete Anlässe im Sinne eines Störgefühls oder wenigstens einer Unsicherheit zu Themen, die einer (Auf-)Lösung harren, sowie über den Status quo hinausreichende Ziele. Coaching ist weder Erfolgsoptimierungstraining für Gewinnertypen noch etwas wie Zahnreinigung auf mentaler Ebene.
Im Übrigen muss die Frage „Therapeutin oder Coach?“ im Zweifelsfall nicht selbst beantwortet werden. Ein guter Coach (siehe dazu auch Tutorial) wird erkennen, wenn eine psychische Störung vorliegt und eine Therapie benötigt wird. Idealerweise bereits im Erstgespräch, spätestens aber im Verlauf des Coachingprozesses. In einem solchen Fall kann er oder sie – bis therapeutische Hilfe verfügbar ist oder in Absprache mit der Therapeutin unterstützend – die Therapie ressourcenorientiert begleiten. An der Heilung der Störung darf und wird der Coach aber nicht (mit)arbeiten. Außer, er hat auch eine Zulassung als Psychotherapeut, Psychiater oder Heilpraktiker für Psychotherapie, dann kann er die Rolle entsprechend wechseln und – falls gewünscht – die therapeutische Behandlung übernehmen.
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