#hoffest2019

Wo bleibt der Mensch in der Digitalisierung?

„MenschSein in der Digitalisierung.“ Was bedeutet das – ethisch, moralisch, praktisch? Diesen Fragen widmete sich Ende Mai 2019 das Hoffest der Unternehmensberatung HRpepper. Gut so. Denn, so eine Erkenntnis der Veranstaltung: Wollen wir in Zukunft gut leben und arbeiten und nicht der Macht der Algorithmen unterliegen, dann brauchen wir jetzt vor allem eines: die Fähigkeit zum Selberdenken.

Ein Beitrag von Sylvia Jumpertz

An einem Freitagmorgen im Mai, kurz vor neun Uhr schallt laute Musik aus der Einfahrt zu einem Berliner Innenhof. „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist; es wär’ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt“ intoniert die Berliner Punkrock-Band Die Ärzte vom Band. Ein cooles Happening der alternativen Szene? Könnte der zufällig Vorbeigehende meinen. Tatsächlich aber findet hier heute ein Business Event statt, wenn auch ein sehr lässiges. Die Berliner Unternehmensberatung HRpepper hat zu ihrem traditionellen Hoffest an ihrem Firmensitz, Tempelhofer Ufer Nummer 11, eingeladen – und wieder einmal unter Beweis gestellt, dass sie gute Connections nach ganz oben hat. Der Himmel über Berlin ist blau, es ist warm: Beste Bedingungen für eine Veranstaltung, die tatsächlich größtenteils outdoor stattfindet – und es darauf anlegt, echte Hofparty-Atmosphäre zu erzeugen, einschließlich Streetfood-Buffet, mobiler Kaffee-Bar und Grafitti-Künstler. Auch die rund 200 Besucher, darunter viele Kunden der Transformationsberatungsfirma und auch ehemalige Mitarbeiter, fügen sich mit ihrem legeren Look nahtlos ins Bild.

So viel Leichtigkeit und gute Laune können nicht schaden – schon als Gegenpol zu den schwergewichtigen Inhalten, die beim Hoffest diesmal verhandelt werden. „Der Mensch in der Digitalisierung“ lautet das Thema – und das kann, bei kritischem Blickwinkel, nun wirklich schlechte Laune machen. Das wissen auch die Referenten, die an diesem Tag auf der Bühne stehen, und ihren Beiträgen sehr oft ein prophylaktisches: „Tut mir leid, dass ich die gute Stimmung trüben muss ...“ voranstellen. Denn, was in den Beiträgen unisono durchklingt: Ob es dem Menschen in der Digitalisierung gut oder schlecht gehen wird, das befindet sich noch in der Schwebe. Es hängt davon ab, was wir jetzt tun. Wie achtsam wir heute mit den großen Chancen, doch auch den Gefahren der Digitalisierung umgehen.

Reicht es aus, allein auf das Prinzip Freiheit zu setzen, um erfolgreich in die Zukunft zu gehen? Das fragt sich beispielsweise HRpepper-Gesellschafter Matthias Meifert in seiner Eröffnungsrede. Die Ansicht, dass man den einzelnen Menschen lediglich emanzipieren müsse, und schon trage dieser Positives zur Zukunft bei, liege derzeit ja im Trend, so Meifert. Doch: „Was ist, wenn die Freiheit, die der Einzelne hat, am Ende dazu führt, dass wir gesellschaftliche Unfreiheit produzieren?“ Was ist zum Beispiel, wenn Unternehmen Dinge erschaffen, die letztlich unser aller Freiheit beschneiden?

Signale dafür gibt es schon, warnt Meifert und zählt, Bezug nehmend auf den Buchautor Werner Thiede („Die digitalisierte Freiheit“), mehrere Freiheitsfallen auf, in denen wir schon heute sitzen. Etwa persönliche: Wir bewegen uns in einem Web, das nach für uns undurchschaubaren Kriterien Informationen vorselektiert. Oder soziale: Wir beschneiden die Freiheit anderer, indem wir digital billige Waren bestellen, die uns dann ebenso billig geliefert werden – von einer neuen unterbezahlten Arbeiterschaft. Oder organisationale: Wir vertrauen, etwa bei der Auswahl von Mitarbeitern, auf Algorithmen, die nur dem Anschein nach vorurteilsfrei sind.

Für Benedikt Herles – der als Autor des Buches „Zukunftsblind“ nach Meifert auf dem Podium steht – hat das alles viel damit zu tun, dass wir ahnungs-, plan- und visionslos in die Digitalisierung stolpern, die, so Herles, eigentlich eine Zeitenwende ist. Schon der Begriff Digitalisierung sei irreführend. Er lässt uns an Apps und kluge Haustechnik denken, während vorwiegend US-Firmen, die mit Milliarden Venture Capital ausgestattet sind, längst an neuen Biotech-, Tranzhumanz- und Blockchain-Technologien arbeiten, die unser Leben weit mehr verändern können als alles, was wir bisher an KI kennen. Herles macht die Probe aufs Exempel, nennt einige – nur scheinbar aberwitzige – Moonshot-Projekte und fragt, wer schon davon gehört hat. Meist gehen nur wenige Hände nach oben. Ist so viel Unkenntnis gefährlich? Ja, meint Herles.

Zumal wir in einer „Matthäus-Gesellschaft“ leben. Soll heißen: Wer hat – nämlich Daten –, dem wird gegeben. Internetkonzerne, die wie Facebook früh gestartet sind, haben heute ein großes Netzwerk, ergo Unmengen an Daten. Daraus können sie lernen. Sie können ihre Software ständig verbessern – und so noch mehr Kunden und Daten generieren; ein sich selbst verstärkender Zyklus des Erfolges. Europäische Unternehmen können da nicht mehr aufschießen, glaubt Herles. Was wir aber können: „Wir können ein gesellschaftliches Silicon Valley werden. Es ist Zeit für gesellschaftliche Moonshots.“ Dazu aber brauchen wir den Willen zur Gestaltung, ein „neues Narrativ“, fordert Herles. Also eine Vision vom Leben, das wir führen wollen.

Speaker Julian Nida Rümelin, Philosoph und Ex-Kulturstaatsminister, würde nicht von einem Narrativ, sondern eher von der Entdeckung moralischer – humanistischer – Tatsachen sprechen. Vor allem der, dass „Menschen nie nur Mittel zum Zweck, sondern immer auch Selbstzweck sind“. Das einzige Mittel, das uns helfen wird, im Sog der digitalen Entwicklung nicht unterzugehen, ist laut Nida Rümelin die Schulung unseres Denkvermögens: „Wir müssen lernen, selbstständig zu denken. Denn Urteilskraft ist wichtiger denn je.“ Nur so werden wir sinnvoll entscheiden können zwischen Technologien, die uns als Menschen dienlich sind, und solchen, die es nicht sind – statt alles der Marktdynamik zu überlassen.

Urteilskraft brauchen insbesondere auch Führungskräfte und Personalmanager beim Einsatz digitaler Instrumente. Doch müssen sie deswegen wirklich ein tieferes technologisches Wissen haben? Wirklich Ahnung haben von Algorithmen und Codes? Diese Frage wird in einer Talkrunde verhandelt. Im Grunde klingt hier die alte Grundsatz-Debatte darüber an, ob Führungskräfte Fachwissen brauchen oder nicht. Ein nachdenklich machender Einwurf kommt von Daniel Mühlbauer, der mit seiner Firma functionHR selbst Predictive Analytics anbietet. Mühlbauer erzählt von HR’lern, die ihn, wenn sie eine Analyse in Auftrag geben, verwundert fragen, wieso es denn dafür Daten brauche. Es handele sich doch um eine Zukunftsanalyse – nichtsahnend, dass sämtliche, mit Hilfe von Digitaltechnik generierten Zukunftsvoraussagen auf Daten aus der Vergangenheit beruhen. Derartiges komme nicht selten vor.

Für Mühlbauer ist es ein Warnsignal dafür, dass wir drohen, uns in eine Zweiklassen-Gesellschaft aus Wissenden und Unwissenden zu verwandeln. Dank der Aufklärung sei es uns gelungen, uns vor Jahrhunderten durch Bildung und Wissen aus unserer Unmündigkeit zu befreien. „Jetzt aber droht die Gefahr, dass wir uns wieder in eine mittelalterliche Gesellschaft zurückentwickeln, in der nur einige wenige, ein neuer Klerus, ein hohes Wissen hat. Und die anderen steuern in eine selbstverschuldete Unmündigkeit hinein.“

Auf der Ebene von Unternehmen kann das dann bedeuten: Führungskräfte und Personaler haben zu wenig Ahnung, um sinnvoll über die digitalen Instrumente urteilen zu können, die sie – etwa bei der Personalauswahl – einsetzen. Die Ahnung entsteht allerdings nicht nebenher. Dafür braucht es Zeit. Haben wir die überhaupt – wir Getriebenen der digitalisierten Welt?

In einem Workshop von Markus Albers, kann man auch darüber ins Zweifeln kommen. Der Journalist gehörte mal zu denen, die in den digitalen Möglichkeiten das Einfallstor für neues selbstbestimmtes Arbeiten sahen. Mittlerweile sieht er die Sache, wie er sagt, kritischer. Denn derzeit, so Abers, stellt sich die Lage oft so dar: Es kommt das Schlechteste aus beiden Arbeitswelten zusammen – der neuen digitalen und der alten analogen. Etwa ständige Erreichbarkeit auf der einen und Kontrolle auf der anderen Seite. Hinzu kommen die Fesseln, die uns die digitalen Tools selbst anlegen, weil sie geschickt unsere Hirnphysiologie austricksen und uns süchtig machen – nach Bestätigung, Likes, Nachrichten.

Was tun? Einfach auf digitale Tools zu verzichten, kann nicht die Lösung sein. Was es aber braucht, sind neue Kulturprozesse, vor allem Aushandlungsprozesse in den Unternehmen, in denen implizite Erwartungen explizit gemacht und verhandelt, vielleicht auch Role Models gefördert werden: Führungskräfte, die deutlich machen, dass es nicht selbstverständlich ist, ständig erreichbar zu sein. Der Satz ist gerade erst ausgesprochen, da meldet sich bei einer Workshop-Teilnehmerin das Telefon. Die Frau stürzt, das Phone am Ohr, aus dem Raum. Großes Gelächter. Und einmal mehr die Erkenntnis: Es ist, auch im Kleinen, nicht leicht, selbst der Game-Changer zu sein. Aber, dieser Eindruck vor allem bleibt vom Hoffest 2019 hängen: Wir werden nicht darum herumkommen, Verantwortung zu übernehmen.

29.05.2019
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