Er hat sich mit der Entstehung von Zeitproblemen befasst und galt als Vordenker in Sachen achtsamer Umgang mit der Zeit: Karlheinz Geißler. Auf den PTT2023 Ende April ist der inzwischen verstobene Zeitforscher mit dem Life Achievement Award ausgezeichnet worden. Die Ehrung für sein Lebenswerk nahm sein Sohn Jonas entgegen.
Zeit ist eine Ressource, oder vielmehr: Wir haben sie in unserer Gesellschaft dazu gemacht. Diesen Umstand hat uns in den vergangenen Jahren niemand so gut vor Augen geführt wie der Mann, der diesmal bei den Petersberger Trainertagen mit dem Life Achievement Award (LAA) der Weiterbildungsbranche geehrt wurde: Zeitforscher Karlheinz Geißler. Allerdings war es eine Preisverleihung ganz anders anders als geplant oder gedacht, anders als die Verleihungen in den Vorjahren. Geißler hätte den Award eigentlich schon im Jahr 2020 erhalten sollen. Dann aber kam Corona, und Geißler wurde zum längsten LAA-Nominierten aller Zeiten. Denn eine virtuelle Ehrung kam für ihn nicht infrage: Er wollte den Anwesenden in die Augen sehen. Und doch entzog sich der Wissenschaftler – „Schlussflüchter“, der er war – letztlich dem Termin. Er starb Ende vergangenen Jahres.
Geißler trotzdem postum zu ehren, stand für die Jury außer Frage. Und so war es zunächst ein Film – ein Videomitschnitt eines Interviews für managerSeminare anlässlich seiner Nominierung im Jahr 2019 –, der die Erinnerung an den Zeitforscher wieder aufleben lässt. Schon diese wenigen Minuten ließen erahnen, wie der Mensch Geißler war: herzlich und nahbar, wortgewandt und schlau. Der Zeitforscher war ein Wissenschaftler, der den Menschen sein Thema auf eine höchst zugängliche, sympathische und humorvolle Art nahebringen konnte. Er nutzte so schöne Begriffe wie Zeitzufriedenheit und so wunderbare Aphorismen wie „Time is Honey“, um ins Bewusstsein zu rufen, dass es einen Zustand wie „keine Zeit zu haben“ gar nicht gibt. Dass dieser nur ein Produkt unserer Kultur ist, die es sich angewöhnt hat, Zeit als Uhrzeit zu vertakten und in Geld zu verrechnen. Geißler positionierte sich denn auch konträr zu den Weiterbildnern, die versprachen, dass man mit Methoden des Zeitmanagements seine Zeit optimieren könne. Er plädierte stattdessen dafür, Zeit als „Lebensmittel“, ja als das Leben selbst, zu begreifen – und war seiner Zeit damit weit voraus.
Kamera: Oliver Hartmann, Schnitt: Sarah Lambers
Ohne Zeitzufriedenheit fehlt uns die Power
In seinen späteren Jahren war der Wissenschaftler häufig gemeinsam mit seinem Sohn Jonas auf der Bühne. Die beiden hielten Reden, die sie mit Geißler'schem Humor „Teilzeit-Vorträge“ nannten. Einen solchen hätten sie auch 2020 gehalten. Jetzt jedoch trat Jonas allein auf die Bühne, um den Award stellvertretend für seinen Vater entgegenzunehmen – begleitet von den Standing Ovations des Publikums. „Für mich“, sagte Geißler, „ist es ein Moment ebenso der Freude wie auch der Trauer“. In seiner anschließenden Keynote nahm er sich Zeit für eine spannende Reise durch die Geschichte unseres Umgangs mit der Zeit. Bedeutete Zeit für uns ursprünglich das Eingebundensein in die Rhythmen der Natur (das englische Wort Time zum Beispiel kommt von Tide, den Gezeiten), so änderte sich dies im Mittelalter, als Mönche ihre Gebetszeiten genauer bestimmen und nicht mehr von der Unzuverlässigkeit von Sonnenuhren oder Kerzen abhängig sein wollten. Sie erfanden die mechanische Räderuhr – und damit die „Ver-Uhrzeitlichung“ des Menschen. „Gab es vorher, in der Natur, Wiederholungen mit Abweichungen, so gab es jetzt nur noch Wiederholung ohne Abweichung“, erklärte Geißler. „Zeit war damit leer geworden, verrechenbar und messbar. Und weil sie plötzlich leer war, konnten wir sie mit einer neuen Qualität besetzen: Geld“.
Die Folgen sind bekannt: Wir glauben, unsere Zeit (ergo unser Geld) durch Beschleunigung vermehren zu können, vermehren damit aber vor allem unser Gefühl von Zeitknappheit und bringen uns so um – hier zitierte Geißler den Soziologen Hartmut Rosa – wertvolle Resonanzmomente. Denn Resonanz lässt sich nicht takten, Resonanz entsteht aus dem Unerwarteten. Und Menschen brauchen Resonanzzeit. Auch in ihrem Arbeitsleben. Sie brauchen den Austausch mit ihren Kollegen und Kolleginnen. Sie brauchen Entlastung vom durchgetakteten Arbeitsalltag, „Übergänge und kleine zeitliche Dehnungsfugen über den Tag hinweg“, wie Geißler es nannte. Und so schlosss Geißler an das Kongressthema Empowerment an, denn: Wie sollen Menschen in die Kraft kommen, wie mitdenken, wie mitgestalten, wenn ihnen dazu schlicht der Atem fehlt?
Der Beitrag wurde geschrieben von
Nicole Bußmann,
Chefredakteurin von managerSeminare und Training aktuell
11.05.2023