Lebensentwurf statt Lebenslauf

HR-Instrumente neu denken

Die Veränderungen der Arbeitswelt im Zuge der Digitalisierung sind einschneidend. Taugen dafür bisherige Instrumente in HR und Recruiting noch? Einer, der sich darüber Gedanken macht, ist Dr. Nicolas Burkhardt. Der Unternehmensberater schreibt nicht nur gerade an einem Buch über Innovationen im Personalmanagement und Recruiting, sondern entwickelt sie auch – in der sogenannten HR Garage. Stefanie Hornung sprach mit dem Innovationsexperten über Tinder für Personaler und warum es lohnt, den Lebenslauf als Tool zu hinterfragen.

Das Interview führte Stefanie Hornung

Herr Burkhardt, in Ihrem bald erscheinenden Buch „Good Job“ hinterfragen Sie die bisherigen Instrumente für Karriere und Arbeitswelt. Wie viel Neues brauchen HR und Recruiting?

Im Kontext von Innovationsmanagement verfällt man leicht der reflexartigen Annahme, dass man alles zwingend moderner machen müsse – von Recruiting über Talentmanagement bis hin zur Unternehmenskultur. Unser Mantra ist allerdings vielmehr: Reflexion statt Reflex. So stellen wir Thesen auf und formulieren jeweils sich reibende Gegenpole – zum Beispiel: Lebensentwurf statt Lebenslauf, Generation All statt Generation Y oder neue Haltung statt neue Hierarchie. Uns geht es darum zu sensibilisieren: Wann sind für eine Organisation disruptive Lösungen, und wann langsame inkrementelle Verbesserungen die klügere Wahl?

Welchen Reflexionsraum möchten Sie beim Thema Talentmanagement eröffnen?

In Zeiten, in denen wir Hierarchien abbauen, und immer mehr Unternehmen die mittlere Führungsebenen ausdünnen, gibt es gar nicht mehr so viele „Aufstiegschancen“ im klassischen Sinne. Da muss man sich darüber Gedanken machen, wie Talentmanagement ansonsten aussehen kann. Ist ein Schritt nach links und rechts, also eben nicht immer nur nach oben, irgendwie positiver belegbar als bisher? Ich weiß aus eigener Erfahrung: Karriere-Angeboten jenseits der Hierarchieleiter fehlt oft die Wertigkeit. Dafür sollten wir Lösungen entwickeln, also horizontale oder sogar absteigende Karriere-Schritte aufwerten.

Das Paradoxe ist ja: Viele Menschen sind auf ihrer derzeitigen Position eigentlich zufrieden, denken aber quasi in dem Muster, dass sie den nächsten Schritt machen müssten. Man sollte sich fragen: Ist bei Talenten wirklich die intrinsische Motivation da, zu führen, oder macht diese Person vielleicht auch eine Position ohne Personalverantwortung happy? Es gilt, mit den Talenten im Vorfeld durch eine bessere Analyse ihrer Persönlichkeit oder eigenen Karriereplanung neue Karrierepfade aufzuzeigen.

Was halten Sie von der These „Roboter statt Recruiter"?

Ich kann mir persönlich überhaupt nicht vorstellen, dass irgendwann Algorithmen und irgendwelche digitalen Logiken Menschen vollständig ersetzen. Digitalisierung und Robotik sind wunderbar als Tools, die uns dabei helfen, unseren Alltag besser zu meistern. Aber wir sollten dabei niemals auf das menschliche Miteinander verzichten. Das Zwischenmenschliche, Überraschende, ein Witz hier und da, den (noch) keine Maschine anhand einer semantischen Logik errechnen kann, macht doch unser Dasein erst aus. Menschen derart zu ersetzen, wäre also niemals mein Wunschszenario – auch in Recruiting und HR nicht. Wir haben eine These in dem Buch, die gerade erst im Entstehen ist: Mut zur Analogie statt digitaler Zwang. Wir sind noch nicht ganz schlüssig, ob sie so bleibt. Aber wir wollen thematisieren, dass es manchmal wesentlich sinniger sein kann, zum Telefonhörer zu greifen oder zum Kollegen ins Büro zu gehen, anstatt nur digital zu kommunizieren.

Die Rolle von Personalverantwortlichen steht im Zuge einer gewissen Do-it-yourself-Mentalität in Frage. Heute kann fast jeder ein bisschen HR: Abteilungen oder Teams wählen neue Kollegen aus, Mitarbeiter bestimmen über ihre Karriere und verwalten ihre HR-Prozesse selbst. Heißt es künftig also „Selbstverantwortung statt HR“?

Die Selbstverantwortung sowohl auf Abteilungs- als auch auf Individual-Ebene ist essenziell, um im Job glücklich zu werden. Unser Buch wird nicht ohne Grund „Good Job“ heißen. Nur wer glaubt, einen guten Job zu haben, macht auch einen guten Job. Wenn Mitarbeiter eine größere Eigenverantwortung für ihre Zufriedenheit im Job haben, können sie beruflich schneller das erreichen, was sie eigentlich wollen. Davon profitieren Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen. Das ist ein hehres Ziel, eine Art Utopie, wenn Sie so wollen. Aber wir sollten dieses Ziel gemeinsam anstreben, das wäre dann wirklich eine Win-Win-Konstellation. Die Rolle von Personalverantwortlichen könnte sich dahingehend verändern, dass sie zu Enablern von Eigenverantwortung werden und als Experten mit Rat und Tat zur Seite stehen, im Sinne einer Berater-Rolle. Eine spannende Aufgabe mit höherer Verantwortung und einem enormen Hebel.

Kommen wir zur Recruitingpraxis: Lebensentwurf statt Lebenslauf lautet eine Ihrer Thesen. Was würden Sie konkret verändern?

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Es geht in unserem Buch nicht darum, Lösungen anzubieten, sondern Fragen aufzuwerfen, die den Leser dazu veranlassen, eigene Lösungen zu finden. Im Kontext von Recruiting und Bewerberauswahl werfen wir unter anderem die Frage auf, ob es überhaupt Sinn macht, weiterhin den Lebenslauf als das ultimative Tool anzusehen. Häufig ist selbiger ja in irgendeiner Form beschönigt oder verfälscht. Außerdem ist seine Information ausschließlich rückwärtsgewandt. Wäre es daher nicht sinnvoller, den Lebensentwurf, also die grundsätzlichen persönlichen Lebensziele mit den Bewerbern durchzudiskutieren, um zu entscheiden, ob es miteinander klappt?

Im Recruiting geht es ja darum, schnell Stellen zu besetzen. Dabei helfen Prozesse und Vereinheitlichungen wie der Lebenslauf. Wie könnte das möglich sein, wenn man sich so intensiv mit jedem Bewerber auseinandersetzt?

Das ist genau die richtige Frage, um sich dem Thema zu nähern. Wir sprechen im Innovationsmanagement an der Stelle von einem „Opportunity-Space“: einem Lösungsraum, in dem man sich Gedanken darüber machen kann, etwas Neues zu entwickeln. Das versuchen wir zum Beispiel mit dem Workshop-Format HR Garage. Wir nehmen uns dabei die Restriktionen in der HR-Welt vor und fragen uns, wie wir dennoch Veränderungen ermöglichen können. Wir haben Zeit- und Lieferdruck und müssen eben entsprechend vereinheitlichen. Wie kann also zum Beispiel eine Lösung aussehen, die vom Lebenslauf etwas abweicht, mehr über den Bewerber aussagt und gleichzeitig hochgradig standardisiert ist?

Sie arbeiten in der HR Garage mit der sogenannten Lean Start-up-Methode. Was steckt genau dahinter?

Lean Start-up ist ein Kofferwort. Darin steckt zum einen Lean Management, wie man es aus der Automobilindustrie der 90er Jahre in Japan kennt, zum Beispiel von Toyota. Zum anderen ist ein Merkmal von Startups damit verbunden: das Tüftlerdasein. Zusammengenommen erhalten Sie Innovationen mit einem auf KPIs basierenden Prozess. Diese Kombination ermöglicht es in einem recht kurzweiligen Verfahren – in einer Art Bootcamp- oder Sprint-Format innerhalb von einem Tag –, Produkte oder Prototypen zu entwickeln und auszuprobieren. Es gilt, die eigene Idee vorzustellen und anhand des Feedbacks die Lösung kontinuierlich anzupassen. Normalerweise würde man diesen Zyklus immer weiter durchlaufen, um sich sukzessive einem immer besseren Innovationsziel anzunähern. Wir können das natürlich innerhalb von einem Tag nur einmal durchexerzieren. Es geht also mehr darum, diese Methode des agilen Arbeitens kennen zu lernen und in der Praxis eigenständig anzuwenden. Über den Tag arbeiten wir sehr viel mit Kreativitätstechniken und versuchen immer mal wieder, Druck aufzubauen, um die Lösungsfindung voranzutreiben. Dabei geht es zunächst nicht um eine perfekte Lösung. Vielmehr steht die Quantität von Impulsen vor ihrer Qualität.

Haben Sie ein Beispiel für einen solchen Prototypen?

Immer wieder kommen Apps auf, die das Matching in Recruiting und Talentmanagement verbessern. Wir hatten zum Beispiel so eine Art Tinder-Lösung, bei der es darum ging, dass sich Lerntandems aus passenden Kollegen zusammenfinden. Dabei sollten sich Menschen mit verschiedenen Begabungen, aber gleichen Interessen so verknüpfen, dass bestimmte Prozesse effizienter werden. Generell hatten wir bisher keine thematische Fokussierung bei der HR Garage. In München, wo das Format als Satellit der Veranstaltung TALENTpro stattfindet, wird es jetzt aber erstmals ein solches Oberthema geben, und das wird Recruiting sein. Wir versprechen uns davon fünf oder sechs verschiedene Prototypen zum gleichen Thema, die unterschiedliche Lösungen zur gleichen Fragestellung zeigen.

Was sagen Sie als Berater für Innovation, Change und Leadership: Gehören Personaler und Recruiter eher zu den Innovationsvorreitern oder zu den Innovationsmuffeln?

Ich bin kein Fan von Pauschalisierungen und Schubladendenken. Gemäß meiner persönlichen Beobachtungen bringen Personaler eine sehr positive Eigenschaft mit und eine, die sie etwas an der Entfaltung hindert. Positiv ist, dass sie eine äußerst hohe Methodenkompetenz aufweisen, wenn sie sich einmal auf einen Innovationsprozess eingelassen haben. Die Teilnehmer unserer HR Garage waren zum Beispiel extrem gut darin, Dinge zu strukturieren, in der Gruppe zu diskutieren und so sukzessive ihren eigenen Prozess voranzutreiben. Manchmal mangelt es allerdings an Selbstbewusstsein, etwa bei der Präsentation oder im Pitch vor einer Expertenjury. Dabei hätten Personaler eigentlich allen Grund dazu, sich wichtiger zu nehmen und sich selbst nicht nur als Kostenfaktor zu sehen. Schließlich kümmern sie sich um die Menschen und Talente in Organisationen und um die Organisationsentwicklung. Und das ist wohl der entscheidende Teil einer Unternehmung, der die Zukunftsfähigkeit überhaupt erst sichert.

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Der Interviewte: Prof. Dr. Nicolas Burkhardt ist geschäftsführender Gesellschafter der Beratung Kopfspringer GmbH. Er führte eine Professur für Innovation, Change und Leadership an der Fachhochschule des Mittelstands und ist u.a. Initiator der sogenannten „HR Garage“. Gemeinsam mit zwei Co-Autoren veröffentlicht er im Juni 2018 das Buch „Good Job“.

Termin: Am 21. März findet eine HR Garage zum Thema innovatives Recruiting in München statt. Am Folgetag diskutiert Burkhardt auf dem neuen Expofestival TALENTpro unter dem Titel „Neues Mindset für Recruiter“ darüber, was nötig ist, um sich für neue Technologien zu öffnen und diese auf innovative Weise in das eigene Unternehmen zu integrieren.

30.01.2018
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