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Übersicht AnsprechpartnerWann passiert Arbeit? Was leistet Führung? Und wie geschieht eigentlich Selbstorganisation? Zu diesen Fragen hat Lars Vollmer siebeneinhalb Gedanken in einem kleinen Büchlein niedergeschrieben. „Wie sich Menschen organisieren, wenn ihnen keiner sagt, was sie tun sollen“ heißt es und ist die Fortsetzung von „Zurück zur Arbeit“, ein weiterer Aufruf, wieder echte Wertschöpfung zu erbringen statt Arbeit nur zu spielen. Im Interview erläutert der Unternehmer, warum Führung keineswegs durch Führungskräfte erbracht werden muss und Menschen sich durchaus selbstorganisiert zu Mannschaften formen.
Herr Vollmer, Ihr Buchtitel „Wie sich Menschen organisieren, wenn ihnen keiner sagt, was sie tun sollen“ klingt wie ein Plädoyer für die Selbstorganisation. Halten Sie Führung und Führungskräfte für überflüssig?
Es ist ein sehr altes Missverständnis, dass Führung institutionalisiert werden muss, dass Führung durch Führungskräfte vollbracht wird - vielleicht einer der zentralen Denkfehler des Industriezeitalters. Und nicht selten ist dabei im Kern Steuerung gemeint, die lediglich mit dem Wort Führung euphemistisch umetikettiert wurde. »Aus Raider wird jetzt Twix, sonst ändert sich nix« … Sie erinnern sich an den Werbespruch.
Halten Sie also Steuerung für überflüssig?
Steuerung, also die Bereitstellung vorhandenen Wissens durch Anweisungen, Prozesse, Regeln, Checklisten etc. ist äußert effizient, wenn es um die Lösung von Routineproblemen geht, ich sage dazu gerne »Wertschöpfung der Norm«. Aber damit allein gewinnen Sie heute keinen Blumentopf mehr, denn der Wettbewerber kann das auch. Wenn es um die Lösung neuer Probleme geht, für die noch kein Wissen vorhanden sein kann, dann kollabiert Steuerung, sie erzeugt Business-Theater und tonnenweise Verschwendung. Für diese »Wertschöpfung der Ausnahme« hilft nur noch Führung.
Was verstehen Sie denn unter Führung?
Echte Führung macht nicht der Eine oder die Andere, und sei er oder sie noch so charismatisch, emphatisch, visionär und durchsetzungsstark. Führung passiert zwischen den Beteiligten, und sie fußt auf der Freiwilligkeit, einer Idee zu folgen. Stellen Sie sich eine verfahrene Projektsituation vor: Der Kunde ändert ständig seine Meinung, die technischen Lösungen schlagen fehl, der Wettbewerber legt was völlig unerwartetes auf den Tisch. Pläne werden jetzt nur noch belächelt. Das einzige, was nun helfen kann, ist eine Idee. Der Ausgang ist ungewiss. Manche der Beteiligten äußern Vorschläge, man probiert das eine und das andere. Manches funktioniert, anderes nicht. Nach einer gewissen Zeit können Sie beobachten, dass sich alle auf einen Lösungsweg gestürzt haben, der am aussichtsreichsten erschien. Aussichtsreich, das Problem zu lösen und den Wettbewerber zu schlagen. Es hat Führung stattgefunden. Für all das braucht es aber überhaupt keine Führungskraft - sie wäre wohl strukturell sogar eher schädlich. Dazu sind ganz normale Menschen in der Lage. Ich plädiere also für Führung und gegen Führungskräfte.
Wie sieht für Sie ideale Führung aus?
Die Frage führt uns in die Irre. Das Hinterherjagen hinter der idealen Führung oder der besten Organisationsform ist wie die Suche nach der perfekten Frisur: sinnlos. Aber wenn Sie wissen, was das konkret zu lösende Problem ist, dann können Sie fragen: Wie machen wir das zusammen besser? Und das schließt immer die externe Referenz mit ein, also den Kunden, die Wettbewerber, den Markt. Diese Frage entsteht ganz natürlich. Und diejenigen, die sie am besten beantworten können, sind: die Könner der jeweiligen Aufgaben. Das Problem der idealen Führung und der optimalen Organisation lösen Sie also auf einer ganz anderen Ebene, als wir alle einmal gedacht haben: nicht auf der Management-Ebene, der Planungsebene, also auf der formellen Ebene, sondern auf den Ebenen der Arbeit und der Menschen. Innerhalb der Wertschöpfungsebene sowie der informellen Ebene.
Sie meinen, dass Wertschöpfung vor allem auf der informellen Ebene stattfindet?
In jedem Unternehmen existieren bereits sich selbstorganisierende Teams mit direkter Ausrichtung auf externe Referenzen. Nur sehen diese sich dazu gezwungen, unter dem Radar zu operieren, leicht subversiv und immer auf der Hinterbühne. Dort gewährleisten sie die gelingende Wertschöpfung auch bei größten Überraschungen. Aber viele dürfen sich heute noch dabei tunlichst nicht erwischen lassen und sind stattdessen auf das Theaterspielen angewiesen, sobald sie auf die Vorderbühne treten.
Wie kann ein Unternehmen das Bilden selbstorganisierter Teams unterstützen bzw. die informelle Ebene schützen?
Was wir heute brauchen, ist die Akzeptanz und Legitimation dieser Hinterbühnenarbeit. Wir dürfen die Könner nicht bekämpfen, wir müssen sie unterstützen. Allerdings nicht durch strukturelle Vorgaben von oben, um ihre Zusammenarbeit vermeintlich besser zu machen! Auch nicht, wenn diese sehr fürsorglich daherkommen. Sondern durch den Schutz davor.
Aber gibt sich ein selbstorganisiertes Team nicht auch eine Struktur, wählt kompetente Personen und diese wählen sich Zuständigkeiten?
Menschen nehmen in Organisationen immer Rollen ein. Verschiedene und mehrere. Sie sind nie nur »Key Account Manager« oder »Head of Firlefanz«. In echten Mannschaften, die darauf ausgerichtet sind, ein Problem außerhalb des Unternehmens zu lösen und nicht irgendwelchen internen Kennzahlen hinterher zu hecheln, verteilen sich Rollen auf die Mitglieder quasi magisch - eben selbstorganisiert.
Ein Beispiel?
Nehmen wir das Orpheus Chambers Orchestra. Dieses preisgekrönte Orchester aus New York schafft es, komplett alle Funktionen, die es in so einem Orchester eben gibt, selbst abzudecken, ohne Ämter zu verleihen. Und mit allen Funktionen meine ich alle, insbesondere die außerhalb der musikalischen Wertschöpfung. Da übernimmt der hoch dekorierte Flötist so etwas Profanes wie die Vergabe der Parkplätze. Der Pianist kümmert sich um die Anmietung der Locations für eine Konzertreise. Der Schlagzeuger hängt sich in die Suche nach einem neuen Hornisten rein. Und so weiter. Das Orpheus Chambers Orchestra ist auch die ganze Organisation um das eigentliche Orchester herum. Eine ganze Company. Und das alles ohne feste Zuständigkeiten. Mit der hohen sozialen Dichte, die in dieser Mannschaft vorhanden ist, wird jedem klar, wo Rollen auszufüllen sind – und dann gibt es immer einen, der sich diese Rolle schnappt. Das nicht immer mit größter Freude. Manchmal einfach nur, weil es gemacht werden muss, weil sonst der Erfolg der kompletten Mission in Gefahr gerät. Bei nächster Gelegenheit wechselt die Rolle dann wieder.
Wie entsteht eine solche – wie Sie es nennen – hohe soziale Dichte?
Soziale Dichte beschreibt die Beziehungsqualität in Teams, das Maß des Für- und Miteinander-Leistens der Beteiligten. Mannschaften mit hoher sozialer Dichte sind zumeist divers und setzen sich aus Mitgliedern mit hoher Passung zum eigentlichen Problem zusammen. Es lässt sich ein großes gegenseitiges Vertrauen feststellen. Alle passen aufeinander auf. Natürlich spielt auch die Größe des Teams eine Rolle. Mein Paradebeispiel für hohe soziale Dichte sind die „Oceans Eleven“ aus dem gleichnamigen Spielfilm mit George Clooney, Brad Pitt und Co. Für mich ein Lehrfilm für moderne Organisationsgestaltung.
Was lässt sich daraus lernen?
Den eigentlichen Schlüssel bei der Entstehung sozialer Dichte sehe ich nicht im Hinzufügen angeblich moderner Teamentwicklungskonzepte, denn im Kern ist schon alles da, was es braucht. Entscheidend ist das Weglassen tradierter Managementpraktiken aus dem Industriezeitalter. Stellen Sie sich nur kurz vor, bei den drei Musketieren hätte es regelmäßige Performance Reviews, individuelle Zielvereinbarungen, Werteleitbilder, 360 Grad Feedbacks oder Teamentwicklungsworkshops mit Lego gegeben…
Was machen wir jetzt mit den bisherigen Führungskräften in den Unternehmen? Mit denen, die die Führungskräfteentwicklungsprogramme durchlaufen haben und brav die bisherigen Karrierewege hochgekrabbelt sind?
Was die bisherigen Führungskräfte in selbstorganisierten Teams tun können? Das ist einfach: Arbeiten, also im eigentlichen Sinne Wertschöpfung für Kunden erzeugen. Mit und für das Team. Viele tun das heute schon und den allermeisten macht es nach meiner Beobachtung auch jede Menge Freude. Diejenigen, die ihre Leidenschaft eher in der majestätischen Unterzeichnung von Urlaubsanträgen sehen, werden wohl früher und später mit ihren Unternehmen untergehen.
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Der Interviewte:
Lars Vollmer ist promovierter Ingenieur, Honorarprofessor und Begründer von intrinsify.me, einem offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt. Er lehrt an mehreren Universitäten und tritt auf Kongressen und Unternehmensveranstaltungen als Redner auf. Auf den Petersberger Trainertagen wird er am 14. April 2018 eine Keynote halten mit dem Titel „Happy Working People – Schein und Sein einer neuen Arbeitswelt“.
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Ausgewählte Thesen aus dem Buch:
„Steuerung von innen braucht es nicht, da Steuerung immer schon vorhanden ist – von außen, durch Kunden und Mitbewerber.“
„Regeln, Ziele, Pläne ... schreien so laut von innen auf die Mitarbeiter ein, dass sie von außen kaum etwas mehr hören können.“
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„In jeder Organisation gibt es Mannschaften, auch in hierarchischen.“
„Auf der Hinterbühne werden die wichtigen Probleme der Organisation gelöst. An vielen Regelungen und Vorgaben vorbei.“
„Wenn Sie nicht streiten müssen, wo Norden ist, weil es jedem klar ist, dann brauchen Sie auch keinen Kompass. Menschen brauchen weder einen überregulierten Alltag noch Scheinprinzipien.“