Ausgetickt. Den Titel fand ich schon gut, als Lothar Seiwert mich vor Monaten bat, Fan der so genannten
Facebook-Seite zu werden, um sie sich zu sichern. Richtig neugierig auf sein Buch wurde ich allerdings erst durch den damaligen Arbeitstitel "Warum Deutschland Abschied vom Zeitmanagement nehmen muss". Schreibt der bekannteste Zeitmanager Deutschlands tatsächlich ein Buch gegen das Zeitmanagement? Nach der Lektüre ist die Antwort eindeutig: ja.
So etwas kann sich nur ein Mensch leisten, der sich absolut sicher ist: seine eigene Positionierung aufzugeben zugunsten einer neuen Überzeugung. Genau das macht Lothar Seiwert mit
„Ausgetickt“: Er verlässt den Thron des Zeitmanagementpapstes zugunsten seiner Erkenntnis, dass Zeitmanagement nicht die Antwort auf die Fragen der Gestressten ist. In Kapitel 3 seines Buches teilt Seiwert seinen Lesern seine Zweifel an der eigenen Wirksamkeit mit:
...In Anfällen von Eitelkeit frage ich mich dann: Ja, was haben meine Bemühungen denn genutzt? Fast dreißig Jahre lang toure ich durch die Lande und erzähle hunderttausenden von Menschen, wie sie mit Stress, Komplexität und den steigenden Anforderungen besser zurechtkommen, Millionen Menschen lesen meine Bücher und sehen mich im Fernsehen, und ich versuche, Stresskompetenz zu vermitteln, wo es nur geht. Und das Ergebnis? Immer mehr Stresskranke!...
Das, was aus diesen paar Zeilen spricht, das Persönliche, zieht sich durch das gesamte Buch. Es ist ein autobiografisches Buch: Der Leser lernt Seiwerts Taxifahrer ebenso wie seinen Sohn kennen, erfährt, dass Seiwerts Vater starb, als Seiwert 18 war, dass er mal als Postbote gearbeitet hat und beinahe mal ertrunken wäre. Seiwert reflektiert seinen Beruf, durchaus selbstkritisch, legt seine Lebensmotive offen. Er zitiert Studienergebnisse, die ihm wichtig erscheinen, erzählt Geschichten, die ihn bewegt haben, zieht seine Schlüsse aus dem Erlebten und bringt dem Leser diese Erkenntnisse auf bemerkenswert überzeugende Art nahe. Man kann gar nicht anders: Man liest und liest, nickt dauernd mit dem Kopf und sagt sich: Recht hat er.
Seiwert plädiert für ein selbstbestimmtes Leben mit Lust, vom Grad der Selbstbestimmtheit hängt seiner Argumentation zufolge das Empfinden von Stress ab, ja, sogar das Lebensglück. Je selbstbestimmter jemand handelt, desto weniger Stress empfindet er. Eine Schlussfolgerung, die sehr in unsere Zeit passt, in der der Glaube an das "immer mehr, immer weiter, immer höher" zu bröckeln beginnt.
...Wenn ich aussteige aus der Fremdbestimmung und Statik des Lebens und einsteige in die Selbstbestimmung und Dynamik des Lebens, dann mache ich alles anders. Dann arbeite ich anders, dann sieht mein Tag anders aus, dann lebe ich mit anderen Menschen zusammen, dann entwickle ich andere Lebensprojekte...
Fazit: Aus dem Zeitmanager ist der Zeitweise geworden, so ungefähr formuliert es ein Werbeflyer des herausgegebenden Verlags Ariston. Das trifft es. Da Seiwert schon einiges an Lebenserfahrung mitbringt, ist das Buch genau das: kein billiger Ratgeber, sondern die Weitergabe von Erfahrungen eines weise gewordenen Mannes. Kurzweilig durch die biografische Komponente, lehrreich durch die implizite Aufforderung zur Selbstreflexion. Absolut lesenswert!
By the way: In der aktuellen Ausgabe von managerSeminare findet sich ein
Interview mit Lothar Seiwert.
21.10.2011