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Systemische Interventionen
Systemische Interventionen

Handlungsspielraum durch Hypothesen

Häufig neigen Teams und mitunter sogar ganze Unternehmen dazu, Herausforderungen und neue Themen nach bekannten Mustern und mithilfe bewährter Lösungsansätze anzugehen. Und das, obwohl es heute wichtiger ist als je zuvor, über den Tellerrand zu blicken, um das eigene Handeln an sich ständig verändernde Kontextbedingungen anzupassen. Die Methode „Handlungsspielraum durch Hypothesen“ kann dabei helfen.

Arbeiten Menschen in einem Team zusammen, haben sie trotz womöglich ähnlicher Qualifikationen nicht immer denselben Blickwinkel auf Themen oder Herausforderungen. Das liegt daran, dass die Wahrnehmung und Interpretation der Welt stark durch die Erlebnisse und Erfahrungen jedes Einzelnen geprägt werden, was wiederum zu etablierten Denkmustern wie Annahmen, Hypothesen und Erklärungsmodellen führt. Solche Denkmuster werden aufgestellt, um die Vergangenheit zu verstehen oder zukünftige Situationen vorherzusagen. Auf der einen Seite helfen sie dabei, den Alltag zu meistern – können aber auf der anderen Seite auch zu Konflikten und Missverständnissen führen. Denn Einzelpersonen, Teams und sogar ganze Unternehmen neigen dazu, ihr Umfeld aufgrund dieser oft unbewussten Denkmuster mit „Scheuklappen“ zu betrachten und immer wieder dieselben Lösungswege zum Umgang mit verschiedenen Herausforderungen zu wählen. Je nach Zugehörigkeitsdauer zu einem System (z. B. Monate, Jahre oder Jahrzehnte) können die entstandenen Scheuklappen stärker oder weniger stark ausgeprägt sein und den Blick auf neue und innovative Ideen mehr oder weniger verwehren.

Einzelpersonen und sogar ganze Unternehmen neigen dazu, ihr Umfeld aufgrund unbewusster Denkmuster mit „Scheuklappen“ zu betrachten und immer wieder dieselben Lösungswege zum Umgang mit verschiedenen Herausforderungen zu wählen.

Gleichzeitig erfordern das externe Umfeld, aber auch Veränderungen interner Strukturen, dass Personen, Teams und Unternehmen ihr Handeln immer wieder hinterfragen und an sich ändernde Kontextbedingungen anpassen. Aktuell stellt der Umgang mit künstlicher Intelligenz ein Beispiel für eine solche Notwendigkeit zum Umdenken dar. Dennoch beobachten wir in der Arbeit mit unseren Kundinnen und Kunden immer wieder, wie neue Technologien, die möglicherweise andere Arbeitsweisen erfordern (= Veränderung der Denk- und Verhaltensmuster), schnell mit einem „nicht relevant für uns, weil …“ abgetan werden und somit wertvoller Raum für Innovation verloren geht.

Hypothesenbildung hilft bei der Entwicklung neuer Perspektiven

Die Methode „Handlungsspielraum durch Hypothesen“ nutzt die Fähigkeit zur Hypothesenbildung und ermöglicht durch einen strukturierten Prozess im Team, gemeinsam innovative und nachhaltige Lösungsansätze und Ideen zum Umgang mit verschiedenen Herausforderungen und Kontextveränderungen zu entwickeln. Die Methode kann flexibel an verschiedene Teamgrößen und -bedarfe angepasst werden. Unabhängig von der Unternehmensgröße zeigt sie, an welchen Stellen Handlungsbedarf besteht und bezieht die Ressourcen, Ideen und Impulse aller Beteiligten ein. Dies geschieht in sechs Schritten – einem Prozess, der in Anlehnung an die kollegiale Beratung auf ein Gesamtsystem angewandt wird und dem Team die Möglichkeit bietet, sich offen über aktuell relevante Veränderungen, beispielsweise den Einbezug von KI in die tägliche Arbeit, auszutauschen und einen entsprechenden Umgang damit zu finden.

1. Fokussierung auf eine bestimmte Thematik oder Fragestellung: Die Methode bezieht sich immer auf eine bestimmte Thematik oder Fragestellung. Reichen können diese vom Blick der Gesellschaft auf das Unternehmen über Formen der Zusammenarbeit im Team bis hin zur Einführung neuer Technologien. Ein Beispiel könnte die aufkommende Diskussion in einem Team im Pflegebereich sein – nach dem Motto: „KI ist für uns nicht relevant, weil es bei uns nur um den Menschen geht.“ Möglicherweise möchte die Führungskraft, dass das Team neue Perspektiven auf dieses Thema erhält – oder der Impuls zur Bearbeitung des Themas kommt aus den Reihen der Teammitglieder, die mit dem Gedanken spielen, KI auszuprobieren, oder die durch einen gemeinsamen Suchprozess in der Runde („Was bewegt uns gerade? Worüber möchten wir sprechen, zu welchen Themen ins Detail gehen?“) auf das Thema aufmerksam geworden sind.

Wichtig ist, dass alle Beteiligten ein grobes Verständnis der Thematik haben und zum Abschluss dieses Schrittes eine klare Fragestellung formulieren, z.B. „Wie könnte uns KI dabei helfen, unsere täglichen Aufgaben besser/schneller/effizienter zu bewältigen?“ oder auch „Wie können wir dafür sorgen, dass uns unsere Kundinnen und Kunden als verlässlichen Partner betrachten?“ oder „Was können wir als Team tun, um trotz der unsicheren wirtschaftlichen Lage handlungsfähig zu bleiben?“. Diese abschließende Fragestellung dient als Wegweiser für den gesamten weiteren Prozess.

Die Methode „Handlungsspielraum durch Hypothesen“: Infos

  • Zeitrahmen: 60 bis 120 Minuten
  • Ausstattung: Flipchart oder Metaplanwand, Post-its, Stifte
  • Gruppengröße: bis zu 15 Personen (oder auch mehr, sofern eine Aufteilung in Untergruppen erfolgt)

2. Äußern von Wahrnehmungen: Im nächsten Schritt äußern alle Beteiligten ihre Wahrnehmungen und Beobachtungen zu dem im vorherigen Schritt festgelegten Thema, z.B. „Ich habe kürzlich eine Dokumentation zum Thema Robotereinsatz in der Pflege gesehen, in der sich die Arbeitsplätze als gefährdet herausgestellt haben“ oder „In einem Gespräch mit Freunden waren wir uns einig, dass KI niemals den menschlichen Faktor ersetzen wird“. Es geht darum, ohne Bewertung oder Interpretation zu beschreiben, was im Team oder im (Arbeits-)Umfeld wahrgenommen wird: „Mit Blick auf das besprochene Thema nehme ich Folgendes wahr … / habe ich Folgendes gehört …“ Etc. Diese Phase dient dazu, ein breites Bild der aktuellen Situation zu schaffen. Indem alle Teammitglieder ihre Sichtweisen teilen, wird ein umfassendes Bild der Situation gezeichnet. Wichtig ist an dieser Stelle, dass seitens der Führungskraft bzw. des Trainers/der Beraterin deutlich gemacht wird, dass alle Wahrnehmungen und Schilderungen ihre Berechtigung haben und nicht bewertet werden. Es geht nicht darum, „die eine Wahrheit“ zu finden, die es aus systemischer Sicht auch gar nicht gibt, sondern verschiedene Sichtweisen auf die Situation zu erhalten.

Nach links und rechts schauen

3. Der Blick über den Tellerrand – Sammeln von Hypothesen und Erklärungsmodellen: Der dritte Schritt besteht darin, die geäußerten Wahrnehmungen zu hinterfragen und mögliche Hypothesen/Erklärungsmodelle/Annahmen zu formulieren. Ziel ist es, in möglichst viele unterschiedliche Richtungen zu denken und am Ende des Schritts einen bunten Blumenstrauß verschiedener Hypothesen zur Verfügung zu haben. Dafür sammelt jedes Teammitglied – verbal oder auch schriftlich auf Post-its – die persönlichen Hypothesen nach dem Motto „Warum das so ist“ zu den zuvor geäußerten Wahrnehmungen, z.B.: „In der Pflege herrscht ein großer Fachkräftemangel, weshalb dieser Bereich von Robotern & KI besonders profitieren kann und daher ins Augenmerk großer Tech-Unternehmen gerät.“ Dies können sowohl die tatsächlichen persönlichen Erklärungsmodelle sein, dürfen aber auch weitergedachte und unkonventionelle, auch paradoxe, Ideen sein, die den Beteiligten in diesem Moment in den Sinn kommen: „Was könnten (Hinter-)Gründe für die aktuelle Situation sein? Wie kommt die Situation zustande?“

Dies erfolgt anhand der Brainstorming-Methode, in der die geäußerten Ideen nicht bewertet, sondern lediglich gesammelt und mitvisualisiert werden. Es wird also nicht in die Diskussion gegangen, nach dem Motto „Das kann ich mir nicht vorstellen, weil …“, sondern alle geäußerten Hypothesen werden so stehen gelassen, wie sie geäußert wurden, bzw. weiter ergänzt. Je mehr Ideen aufkommen, desto mehr Ansatzpunkte ergeben sich für die Lösungsideen im nächsten Schritt – weshalb es auch sinnvoll sein kann, die Perspektive verschiedener Stakeholder miteinzubeziehen. Das kann den Blick über den Tellerrand zusätzlich erweitern, z.B. mithilfe von Fragen wie „Welche Erklärungsmodelle würde unsere Nachbarabteilung bezüglich unserer Zusammenarbeit sehen und wieso?", "Wie sehen das unsere Kundinnen und Kunden?“. Auf diese Weise wird das Verständnis für unterschiedliche Erklärungsansätze und deren Bedeutung gefördert und durch die Breite an Sichtweisen ein größerer Lösungsraum eröffnet.

Was ist hier systemisch?

Die Methode „Handlungsspielraum durch Hypothesen“ ermutigt dazu, das System und dessen Wechselwirkungen kritisch zu hinterfragen und sich sowohl der vorhandenen als auch der zukünftig zu stärkenden Ressourcen bewusst zu werden. Sie basiert auf dem Prinzip des Konstruktivismus, das die Existenz einer einzigen objektiven Wahrheit verneint und stattdessen die Vielfalt an Perspektiven und Wirklichkeiten der beteiligten Personen anerkennt. Durch den Einbezug verschiedener Stakeholder und Personengruppen entsteht ein umfassendes Bild der Situation, das wertvoller Multirationalität Raum bietet.

Quelle: noesis GmbH & Co. KG

4. Clusterbildung: Im vierten Schritt werden die gesammelten Hypothesen und Erklärungsmodelle thematisch gruppiert und geclustert. Die Clusterbildung dient dazu, Muster und zusammengehörende Themen zu identifizieren. Die systematische Gruppierung reduziert die Komplexität der Informationen und ermöglicht es dem Team, fokussierte und zielgerichtete Diskussionen zu führen. Durch das Erkennen von Clustern können die wesentlichen Handlungsfelder klarer definiert und entsprechende Handlungsableitungen getroffen werden.

Mögliche Auswirkungen und Konsequenzen erwägen

5. Bedeutung der Hypothesen: Nun wird untersucht, welche Auswirkungen die identifizierten Hypothesen und Erklärungsmodelle auf das Team und die Zusammenarbeit haben könnten, wenn sie zuträfen: „Was würde es für uns/unser Team/unsere Zusammenarbeit/uns als Unternehmen bedeuten, wenn Hypothese XY zuträfe?“ Hier werden sowohl mögliche Konsequenzen aufgezeigt, nach dem Motto „Was ist die zwingende Notwendigkeit zu handeln bzw. was wären Konsequenzen, wenn wir dies nicht tun würden?“ als auch konkrete Handlungsableitungen formuliert, z.B. „Wenn Hypothese XY zutrifft, dann sollten wir als Unternehmen/sollten wir als Team/sollte ich in meiner Rolle … tun. Dies könnte funktionieren, indem ich/wir …“. Es wird analysiert, welche Maßnahmen erforderlich sind, um positive Veränderungen herbeizuführen oder negative Entwicklungen zu vermeiden.

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Auch an dieser Stelle ist die Berücksichtigung weiterer Sichtweisen zum Finden von neuen, innovativen Strategien hilfreich, z.B. durch Einnahme einer anderen Perspektive wie „Wenn die Hypothese zuträfe und ich unser Kunde wäre, was würde ich mir dann wünschen?“ bzw. konkret „Wenn die Pflege tatsächlich zunehmend von Robotern unterstützt würde, würde ich mir als Patientin weiterhin mindestens einen menschlichen Ansprechpartner wünschen?“ etc. Dieser Schritt ist entscheidend, um konkrete Handlungspläne abzuleiten und die Wahrnehmungen und Hypothesen in der Praxis nutzbar zu machen. Es wird deutlich, welche Schritte unternommen werden müssen, um die identifizierten Herausforderungen zu bewältigen und/oder die Zusammenarbeit entsprechend zu verbessern.

6. Einigung: Zum Abschluss der Methode wird ein gemeinsames Commitment herbeigeführt – beispielsweise mithilfe folgender Fragen:

  • Worauf einigen wir uns?
  • Was sind unsere konkreten nächsten Schritte?
  • Wer ist wofür zuständig?
  • Wie sieht die Zeitachse aus?
  • Wann schauen wir uns das Thema/unseren Fortschritt noch mal an (auch, wenn sich dafür entschieden wird, erst mal nichts zu tun)?

Dieser Schritt dient dazu, sicherzustellen, dass alle Teilnehmenden ein gemeinsames Verständnis und eine klare Ausrichtung bezüglich der besprochenen Thematik haben. Er fördert die Verbindlichkeit und Verantwortung jedes Einzelnen gegenüber den vereinbarten Zielen und Maßnahmen, erleichtert die Umsetzung und Nachverfolgung der besprochenen Ideen und Lösungen im Arbeitsalltag und erhöht letztlich die Wahrscheinlichkeit, dass die erarbeiteten Maßnahmen nachhaltig und erfolgreich umgesetzt werden.

Die Autorin: Lorena Käppeler ist Wirtschaftspsychologin und als Trainerin, Beraterin und Systemischer Coach im Beratungs- und Trainingsinstitut noesis GmbH & Co. KG mit den Themenschwerpunkten Führungskräftetraining, Teamentwicklung und systemisches Coaching tätig. Kontakt: noesis-online.de

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