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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Wolfgang Roth aus managerSeminare 297, Dezember 2022
Die Zahlen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen steigen rapide an, und das belastet die Wirtschaft. Sowohl die Kosten aus Absentismus wie auch Präsentismus (Mitarbeitende schleppen sich krank zur Arbeit) schmälern die Gewinne von Unternehmen. Wenn wir uns vor Augen halten, dass im Jahresverlauf etwa ein Viertel der Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, dann ist leicht nachvollziehbar, dass parallele Langzeiterkrankungen von Mitarbeitenden in einem Kleinbetrieb sogar existenzbedrohende Situationen erzeugen können – und es ist nachvollziehbar, dass Unternehmen solchen Situationen vorbeugen wollen.
Eigentlich sollte für die Betriebe die gesetzlich vorgeschriebene „Beurteilung psychischer Gefährdungen“ ein hilfreicher Einstieg ins Thema psychische Gesundheit sein. Seit Anfang 2014 sind alle deutschen Unternehmen dazu verpflichtet, sowohl körperliche als auch psychische Arbeitsbelastungen ihrer Mitarbeitenden zu ermitteln und bei Bedarf präventiv dagegen vorzugehen. Ein Problem dabei von Anfang an: Wie genau dies geschehen soll, ließ der Gesetzgeber offen. Laut Untersuchungen erfüllt denn auch aktuell gerade einmal ein Drittel der Betriebe die gesetzlichen Vorgaben und führt systematische Analysen durch.
Interessanterweise lässt sich parallel dazu beobachten, dass Trainings, Coachings und andere Angebote, die versprechen, die Resilienz von Mitarbeitenden zu erhöhen, gerade einen Boom erleben. Womöglich sind diese Offerten so beliebt, weil Resilienztrainings, Kurse in Sachen Stressmanagement und selbst Angebote zur „Burnout-Prävention“ niederschwelliger und akzeptabler erscheinen als eine „Psychische Gefährdungsbeurteilung“. Denn was die menschliche Psyche angeht, neigen wir in unserer Turbo-Hochleistungskultur zur Tabuisierung. Wir denken beim Thema Psyche schnell an psychische Erkrankungen – und die sind leider immer noch mit einem Stigma belegt.
Doch viele der Angebote, die Unternehmen in Sachen Resilienzförderung derzeit so gern nutzen, helfen bei genauerer Betrachtung wenig weiter. Ein bisschen Achtsamkeit hier, ein paar betriebliche Gesundheitsmaßnahmen dort oder sogar kontraproduktive Selbstoptimierungsvorschläge – wer ernsthaft etwas für die Resilienzentwicklung in seinem Unternehmen tun will, muss anders vorgehen als so. Dazu gehört zunächst einmal, Resilienz überhaupt zu verstehen. Nach 25 Jahren Beschäftigung mit dem Thema ist mein Eindruck jedoch, dass dies nicht selbstverständlich ist, sondern dass Resilienz meistens viel zu klein betrachtet wird.
Erstens wird Resilienz häufig ausschließlich als „psychische Widerstandsfähigkeit“ oder auch „Immunsystem der Seele“ gesehen. Der Fokus liegt damit auf der Frage: Welche psychischen Faktoren erhalten uns gesund? Aber wenn wir wollen, dass Menschen selbst unter widrigsten Umständen ihre Gesundheit bewahren können – und dabei geht es im Kern beim Thema Resilienz –, dann muss der Blick weiter sein. Hilfreich ist hier, sich in Erinnerung zu rufen, was die WHO als Voraussetzung für ein gesundes Leben und Zusammenleben von Menschen definiert hat: Gesundheit ist demnach ein individuelles Wohlbefinden, das sowohl durch psychologische als auch biologische, soziale und spirituelle Faktoren beeinflusst wird. Wenn wir also davon ausgehen, dass Resilienz bedeutet, dass Menschen körperlich und psychisch gesund durch schwierige Lagen gehen können, dann sollten wir dementsprechend auch alle vier, von der WHO genannten Aspekte in das Konzept einbeziehen.
Zweitens greift die gängige Betrachtung von Resilienz nach meiner Wahrnehmung zu kurz, weil man glaubt, es kommt dabei vor allem darauf an, die menschliche Widerstandskraft – verstanden als das beherzte Angehen gegen Probleme – zu stärken. Doch gesundes, resilientes Leben kennzeichnet sich nicht nur darüber, dass jemand in der Lage ist, Widerstand zu leisten. Es ist vielmehr dadurch charakterisiert, in gewissen Momenten genau das Gegenteil zu tun: mitzufließen, loszulassen, zu akzeptieren. Ein Potenzial, das wir in unserer auf Leistung, Stärke, Beherrschbarkeit, Machbarkeit und Kontrolle ausgerichteten (Arbeits-)Kultur noch zu wenig integrieren.
Der dritte missverständliche Aspekt, der aus meiner Sicht im gängigen Resilienzbegriff steckt, hängt mit dem gerade umrissenen Widerstandsverständnis unmittelbar zusammen: Es ist die Vorstellung, dass ein resilienter Mensch nach einem Niederschlag sogleich wieder voll funktionsfähig ist. Wie ein Stehaufmännchen. Doch Menschen sind keine Stehaufmännchen, kein Spielzeug, keine funktionierenden Gegenstände. Menschen haben Gedanken, Glaubenssätze, Gefühle und ein Sinnempfinden. Die tägliche Begegnung mit Menschen im coachenden oder auch therapeutischen Kontext zeigt, dass Menschen nach einem für sie schlimmen Erlebnis nicht selten erst einmal am Boden liegen bleiben. Energielos. Erschlagen. Schmerzverzerrt. Hoffnungslos. Das ist normal und eben kein Zeichen fehlender Resilienz. Im Gegenteil, es kann sogar seinen Sinn haben. Denn das Leben möchte oftmals einen Hinweis geben, etwas zu verändern und nicht einfach automatisch weiterzumachen.
Die Vorstellung, dass resilient zu sein, vor allem bedeutet, schnell wieder zu funktionieren, führt unmittelbar zum vierten Missverständnis oder besser gesagt zu einer elementaren Schieflage bei dem Thema: Unternehmen interessieren sich vor allem deswegen für Resilienz, weil sie ihre Absentismus-, Präsentismus- und Fluktuationskosten senken wollen. Sie sind überwiegend auf Kennzahlen und Kosten fixiert. Selbst wenn der Faktor Gesundheit betont wird, geht es dabei doch eher um die Leistungskraft der Mitarbeitenden – Gerald Hüther würde wahrscheinlich den Begriff „Produktionsfaktoren“ verwenden – als um deren Wohlbefinden.
Auf Zahlen zu achten, ist natürlich ein legitimes Anliegen, zumal, wie eingangs beschrieben, die wirtschaftliche Existenz eines Unternehmens durch allzu viele parallele Erkrankungen in der Belegschaft ernsthaft gefährdet sein kann. Aber wenn sich ein Unternehmen nicht wirklich aus tiefster Überzeugung für das Wohlbefinden der Menschen interessiert, dann werden die Menschen das zum einen spüren – und entsprechend reagieren. Und zum anderen ist dann die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass das Unternehmen das Thema nur halbherzig angeht und seinen Mitarbeitenden die beschriebenen, wenig hilfreichen Resilienzpflaster in Form von Anti-Stress-Kursen und Achtsamkeitstrainings „verordnet“ – statt die Sache so anzugehen, wie sie angegangen werden müsste, nämlich ganzheitlich.
Resilienzentwicklung heißt Mensch-Sein beziehungsweise Mensch-Werdung. Das lässt sich Unternehmen nicht gut verkaufen, ist aber gleichwohl der zentrale Punkt: Unternehmen müssen ein Umfeld schaffen, in dem Menschen als Lebewesen – und nicht als humane Ressource – wahrgenommen, wertgeschätzt und gewürdigt werden. Die Grundlage dafür besteht darin, die Organisation als einen Ort zu gestalten, der menschliche Gesundheit im WHO-Sinn (und im Sinn eines salutogenetischen Gesundheitsverständnisses) auf allen vier Ebenen unterstützt: der physischen, der psychischen, der sozialen und spirituellen (im Arbeitskontext verstanden als Sinngebung).
Resiliente Führung bedeutet demnach, den Menschen in seiner Ganzheit als bio-psycho-soziales und sinnsuchendes Lebewesen anzuerkennen, ihn wertzuschätzen und zu würdigen. Es bedeutet, in Begegnung mit den Menschen zu gehen, wahres Interesse an ihnen zu zeigen, Fragen zu stellen und hinzuhören. Es heißt, wertschätzend zu kommunizieren und Konflikte konstruktiv anzugehen. Es impliziert, nachzufragen, ob Mitarbeitende das (Zusammen-)Leben im Unternehmen, ihre Arbeitsaufgabe, die Ausrichtung des Unternehmens als sinnvoll erachten und wahrnehmen. Es erfordert soziale Unterstützung, die Bereitschaft, sich der Probleme der Mitarbeitenden anzunehmen, ohne dabei in die Rolle eines Therapeuten zu verfallen. Manchmal kann die Hilfe auch darin bestehen, einem Mitarbeiter im nächsten Schritt den betrieblichen Sozialdienst oder die Betriebsärztin zu empfehlen.Vor allem aber heißt es: Mensch sein und menschlich bleiben, authentisch, nahbar, mit all den eigenen Stärken und Schwächen.
Neben dem Wissen über die Faktoren, die Gesundheit schaffen, ist die wichtigste Voraussetzung für psychologisch gesunde Führung, dass die Führungskraft mit ihrer eigenen Psyche vertraut und einigermaßen im Reinen ist. Doch gerade das fehlt vielen (noch). Vor allem mangelt es an der nötigen Eigenzuwendung. Das beweist sich fast täglich hinter verschlossenen Türen, wenn erschöpfte Führungskräfte klagen, sich mittlerweile wie eine Maschine zu fühlen, die nur noch funktioniert. Dabei wäre die Hinwendung zu sich selbst, zu den eigenen Bedürfnissen, Werten und auch dem individuellen Sinnerleben sehr wichtig, um die persönliche Resilienz bewahren beziehungsweise stärken zu können. Selbstzuwendung ist der Einstieg in resiliente Selbstführung. Und resiliente Selbstführung ist die Basis, um Mitarbeitende resilient führen zu können. Was es dafür braucht, sind entsprechend geschulte Führungskräfte. Erst diese werden die Motivation aufbringen, das gesamte Arbeitsumfeld daraufhin zu durchleuchten, wie gesundheitsförderlich oder -gefährdend es ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dann auch nötige strukturelle Veränderungen vornehmen, statt die Zähne zusammenzubeißen und zu glauben, dass man sich Missständen wie einem Übermaß an Überstunden oder dem Zwang permanenter Erreichbarkeit einfach nur qua eigener „Widerstandskraft“ anpassen muss, ist hoch.
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