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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag aus managerSeminare 316, Juli 2024
„Zurück ins Büro!“, so erschallt es derzeit aus den Führungsetagen vieler Unternehmen. Angeblich schadet es der Produktivität und Innovationskraft der Firmen, wenn Mitarbeitende einen Großteil ihrer Arbeitszeit im Homeoffice verbringen. Während manche Organisationen neue Präsenzpflichten erlassen, legen es andere darauf an, ihre Mitarbeitenden mit Belohnungen zurück ins Büro zu locken. Was sie alle eint: Sie leben in einer „Truman Show“.
Für alle, die die 1998 von Regisseur Peter Weir in Szene gesetzte Komödie „Die Truman Show“ noch nie gesehen haben, eine kurze Zusammenfassung: Der Held des Werkes ist der Versicherungsangestellte Truman Burbank. Er lebt sein sehr durchschnittliches Leben, ohne zu wissen, dass er seit seiner Geburt – Truman ist 29 Jahre alt – im Mittelpunkt einer Realityshow steht, bei der sein Leben Tag und Nacht live im Fernsehen übertragen wird. Trumans Heimat ist von Wasser umgeben, ein Element, vor dem ihm seit Kindesbeinen Angst eingeflößt wurde, damit er niemals auf die Idee kommt, seinen Wohnort, Seahaven, zu verlassen. Das wäre auch schon deshalb schwierig, weil der von einer riesigen Kuppel überdacht wird, in der alles, was sich darunter befindet, reiner Fake ist: das Klima, Tag und Nacht, Sturm und Regen und Sonne und Mond. Ein paar Tausend versteckte Kameras zeichnen Trumans Leben minutiös auf, rund um die Uhr, 24/7, wie man heute sagen würde. Alles scheint den berühmten Satz Theodor W. Adornos, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, zu widerlegen. Truman fühlt sich pudelwohl; der totale Fake ist seine Realität. Doch dann, nach fast drei Jahrzehnten seines Daseins, bemerkt er an einigen kleinen Dingen, dass irgendetwas nicht stimmt. Das Licht kommt von Scheinwerfern, er hört Dinge, die er nicht hören soll und entwickelt allmählich Zweifel. Sie sind der Erzfeind aller Denkroutinen und aller vermeintlichen Normalität.
„Der Zweifel ist der Weisheit Anfang“, hat der Vater der europäischen Aufklärung, René Descartes, geschrieben. Sind die Zweifel einmal gesät, dann ist die alte Einbildung, der Fake, fällig. Das mag dauern, aber es wird kommen. Genau deshalb sollten sich deutsche Angestellte und Manager die Truman Show ansehen. Am Ende sieht man Truman Burbank, wie er die Kuppel verlässt. Die Zweifel haben ihn zur Realität und zu sich selbst geführt. Dazu sind sie da.
In den alten Organisationen sind die meisten Mitarbeitenden Truman Burbanks: Sie sind in einer Show, die so tut, als ob sie die einzige Realität wäre, die einzige Option, um heute produktiv, kreativ und damit auch sinnvoll und zweckmäßig ihre Arbeit zu erledigen. Doch der Reihe nach: Wir leben seit Jahrzehnten in einer Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Einer Wissensgesellschaft, die die Arbeit, deren Wesen und Orte grundlegend verändert. Schuld daran ist die Entwicklung der Industrie selbst. Ihr Motor ist die Arbeitsteiligkeit, das Spezialistentum. Wenn Menschen das tun, was sie besonders gut können, kommt dabei mehr raus. Der Ort, an dem das bis ins kleinste Detail organisiert werden musste, war die Fabrik. Die ersten Manager dafür wurden von englischen Unternehmern unter Gefängniswärtern rekrutiert. Sie waren vom Fach, und viele ihrer Nachfolger sind es geblieben.
Mehr als hundert Jahre danach, mitten im Ersten Weltkrieg, schrieb der französische Bergbauingenieur Henri Fayol seine bis heute praktisch unverändert gelehrten Prinzipien des Managements auf. Darin werden im Wesentlichen die Arbeitsbedingungen der Fabrik in die Bürowelt übertragen. Fayol macht gute Worte; er plädiert für eine gute Führung. Vieles von dem, was er vor mehr als 100 Jahren schrieb, erinnert an den freundlichen Ton, den Führungskräfte „auf Augenhöhe“ bis heute von sich geben. Doch wer genau hinsieht, sieht die Truman Show. Wir lesen von „Disziplin“ und dem „Recht auf Befehle“, der „einheitlichen Richtung“, die nötig ist, und dem heute noch viel beschworenen „Esprit de Corps“, dem Korps- bzw. Teamgeist – ein Begriff, den Fayol wie vieles andere aus dem Militärischen übernimmt: „Die Förderung des Teamgeistes führt zu Harmonie und Einheit innerhalb der Organisation.“
Eine immer wieder vorgebrachte Behauptung, wenn es gegen das Homeoffice geht, ist die, dass dadurch eben dieser „Teamgeist“ – die „soziale Komponente“ – leidet. Das hört sich sehr nett und menschenfreundlich an, es hat aber immer auch eine sehr dunkle Seite. Sozialwissenschaftler kennen den Begriff der Gruppenkohäsion, des Gruppendrucks. Wenn alle „an einem Strang ziehen“, sind die, die abweichen, die nicht mitmachen, Verräter. Das ist eine alte Geschichte. Wer das Team beschwört, muss aber auch diese Geschichte erzählen. Es ist eine Geschichte von Zwang und Unterwerfung, von Täuschung und persönlicher Entmündigung. Die zweite Anti-Homeoffice-Lüge ist die der vermeintlich geringeren Kreativität, wenn man nicht im Büro ist. Viele Managerinnen und Manager legen als „Beweis“ dafür ihre persönliche Empirie vor. Hinzu kommen Studien oft zweifelhafter Qualität, die in den Medien kritiklos zitiert werden. Schaut man genauer hin, merkt man, dass Kreativität und Effizienz verwechselt werden – auch dies eine Truman Show im Kopf.
Wissensarbeit ist heute die dominante Beschäftigungsform, auch wenn viele das nicht wissen. Versteht man unter Wissensarbeit wissensintensive Dienstleistungen, dann arbeiteten im Jahr 2022 Statista zufolge in Deutschland 42,7 Prozent aller Beschäftigten mit dem Kopf. Und wer nachdenkt beim Arbeiten, der braucht seine Ruhe und kein Großraumbüro mit Meetings am laufenden Band. Die Psychologin Shelley Carson von der Harvard University hat das Anfang der 1990er-Jahre in einem seither weltweit vielfach reproduzieren Experiment gezeigt. Sie fand Hinweise darauf, dass hochbegabte kreative Menschen eher schlecht darin sind, Informationen und Reize, die auf sie einstürzen, zu filtern. Das hat zwar den Vorteil, dass diese Menschen sehr offen für neue Impulse sind, vieles aufgreifen und kreativ weiterverarbeiten können. Es kann sie aber auch besonders stark belasten und ins mentale Chaos stürzen, während weniger Kreative bei irrelevanten Störungen einfach auf Durchzug stellen und mit ihrer Tätigkeit fortfahren.
Die Lärm- und „Sozial“-Kulisse klassischer Büros fördert somit den Durchschnitt, nicht die Begabten, Klugen, Innovativen, Kreativen. Die alten, noch aus Industriezeiten stammenden Strukturen fördern die, die brav mitlaufen, und die deshalb vom alten Management so gemocht werden – die bürokratischen Systemerhalter, die Sesselkleber, diejenigen, die in der Fayol'schen Organisation systematisch Karriere machen. Und das alles auf Kosten der Innovations- und Transformationsfähigkeit.
Für die im alten Denken verwurzelten Manager und Managerinnen ist dieses Fehlen der Innovations- und Transformationskraft ein großes Rätsel. Mit ihrem loyalen, aber gleichförmigen und innovationsallergischen Personal dasitzend, fragen sie sich, warum bloß, trotz allem Socializing – das im Grunde der sozialen Kontrolle dient – der viel beschworene Teamgeist nicht dazu langt, aus der Misere hinauszukommen? Woran könnte das liegen? Vielleicht daran, dass Menschen, die sich wertgeschätzt fühlen, niemanden brauchen, der sie antreibt, weil ihre intrinsische Motivation völlig ausreicht, um neugierig und agil zu bleiben? Oder daran, dass Arbeitskreise, wie wir sie aus Unternehmen kennen, etwas völlig anderes sind als Netzwerke, in denen intrinsisch motivierte Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter kooperieren, ohne „Teamgeist“, aber indem sie ihre Spezialisierung, ihre spezifischen Kompetenzen, ihr Know-how einbringen?
Wer nachdenkt beim Arbeiten, braucht auch keine Arbeitszeit wie im alten Fabrikschichtbetrieb, wo dreimal acht Stunden gearbeitet werden musste, damit sich die Investitionen rechnen. Es geht heute um Innovationen, um das Ergebnis von Nachdenken durch Spezialistinnen und Spezialisten, jene Wissensarbeiter also, von denen Peter Drucker richtig feststellte, dass sie „mehr über ihre Arbeit wissen als ihr Chef“. „Zurück ins Büro“ ist daher eine Scheindebatte, eine Truman Show. Denn es geht nicht um die Frage, wo Arbeit kreativer, besser, sozialer gemacht werden kann. Es geht aus der Perspektive des alten Managements (bei dem nach wie vor auch viele Junge ihre Karrierechancen sehen) darum, wie kontrolliert und auch sozial manipuliert die Arbeit getan wird.
Homeoffice, die Notlösung aus Corona-Zeiten zeigt, dass es sich keineswegs negativ auf die Produktivität und Effektivität der Arbeit auswirkt, wenn Menschen nicht im Rudel (und, nebenbei bemerkt, durch den Arbeitsweg auch noch klimaschädlich) in den Strukturen von vorgestern arbeiten. Das muss nun zurückgenommen werden. Gearbeitet wird dort, wo es am besten ist, mal hier, mal dort, vor allem aber selbstbestimmter und selbstständiger.
Doch damit kommen die alten Chefs und Chefinnen nicht zurecht. Sie wollen ihre Kuppeln nicht gegen die Realität tauschen – die sie nicht mehr braucht, jedenfalls nicht in alter Form. Neue Führung ist dazu da, um das Talent und das Können der Menschen in der Organisation zu entfalten, und diese Organisation muss sich grundlegend zugunsten der Förderung dieser Talente und Fähigkeiten ändern. Die Kuppel muss weg. Eine Firma ist kein Bootcamp und kein Gefängnis. Ein Chef ist keine „Führungs-Kraft“ mehr – und kindische Bockigkeit ist keine Hilfe, auch, wenn sie erwartbar war. Das alte Management dreht noch mal auf, reagiert ein bisschen so wie der Adel im 19. Jahrhundert auf die Bedrohung durch die Aufklärung und das neue Selbstbewusstsein der Bürger. Auch da wollte man am liebsten Rückbau betreiben, geklappt hat das nicht, statt Restauration gabs Republik und Machtverlust. Vielleicht besser mal die Truman Show gucken und ein Geschichtsbuch in die Hand nehmen. Denn wer will schon zu den Verlierern der Geschichte gehören?
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