Was sich als Ethik präsentiert, ist bei näherem Hinsehen oft gar keine. Das gilt nicht nur für die Fälle von Heuchelei und Doppelmoral, der sich besonders dreisten Vertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft, von Politik und Religion immer wieder schuldig machen. Es gibt auch eine Form von Schein-Ethik, der wir alle nur zu leicht erliegen.
Sie lässt sich in der Kantine beobachten oder am Kaffeeautomaten, wenn sich Kollegen über die Arbeitsbedingungen im Unternehmen aufregen, über den miesen Lohn, den unmöglichen Chef oder über den mangelnden Respekt vor dem Mitarbeiter. So geht das nicht, heißt es dann, vielleicht sogar: Schweinerei, eigentlich müsste man sich beschweren. Und dabei bleibt es dann auch zumeist. Die ethische Empörung mag noch so berechtigt sein, sie erschöpft sich in Symbolen des Unmuts und der Ablehnung. Ein bisschen ist das wie eine Lichterkette: Man zündet eine Kerze an und demonstriert sich und Gleichgesinnten seine Meinung, seine Betroffenheit. Das gibt ein gutes Gefühl. Und ändert nichts. Ein Alibi.
Natürlich ist es richtig und verständlich, wenn Menschen sich über Umstände aufregen, die sie furchtbar finden. Es ist auch richtig und wichtig, wenn sie ihre Meinung öffentlich kundgeben, sei es in der Kaffeeküche oder auf der Straße. Problematisch ist nur, wenn das alles ist, wozu sie ihre ethischen Überzeugungen bringen. Die Erfahrung zeigt: Solange sie ein Unrecht nicht persönlich betrifft, reagieren Menschen mit oberflächlicher Anteilnahme. Sie verbrüdern sich im Geiste, erklären sich solidarisch oder zeigen Mitleid – und belassen es dabei.