Michael Andrick in Speakers Corner
Michael Andrick in Speakers Corner

„Es hat nicht jeder seine eigene Wahrheit“

​Relativismus ist die Auffassung, dass jede Ansicht nur eine Ansicht sei. Kein Mensch könne Wahrheit für sich beanspruchen, denn jeder stehe auf einem einmaligen Standpunkt in der Welt. Die Losung der Relativisten lautet: „Alle haben ihre eigene Realität!“ Oder auch: „Du hast recht, und ich habe recht, jeder auf seine Weise!“ Das klingt human und aufgeklärt, hat aus Sicht des Philosophen Michael Andrick aber schlechte Konsequenzen. ​

Philosophen denken oft zu viel nach über Gut und Böse, Gott, das gelingende Leben usw. Dann können sie nichts leisten, weil sie den Anfang nicht finden, sondern jeden Anfang wieder zerdenken; vor lauter intellektueller Schärfe werden sie stumpf gegen das Leben. Das ist ihre Vitamin-D-Vergiftung.

Nicht-Philosophen denken oft zu wenig über die großen Fragen und sich selbst nach. Dann können sie leicht alles Mögliche leisten, weil sie – als Menschen, die sich selbst gleichsam „nur von innen“ kennen – nirgends Schuld oder Gefahr für sich und andere wittern: Alles geht so seinen Gang, und sie gehen eben mit. So sind sie (vielleicht erfolgreiche) Athleten einer Lebensweise, die sie nur schemenhaft verstehen. Das ist ihr Vitamin-D-Mangel.

Die heute häufigste Ausprägung von Vitamin-D-Mangel – die siegreiche, dominante Mutante der Reflexionsarmut – heißt Relativismus. Seine äußeren Symptome: brüchige Denkvorgänge ohne Spannkraft, Schielen nach Autorität und ein Unwille, zu argumentieren, der sich gut verbirgt, weil er in unterbleibenden Äußerungen zutage tritt. Damit einher geht meist auch gute Allgemeinverträglichkeit – kaum Ecken, Kanten, Schärfen; viel Rundung und gleitender Übergang, eben eine gefällig-anschmiegsame Subjektivität, die gar nichts Bestimmtes will und deshalb „mit allen gut kann“, wie man sagt.

Relativismus ist die Auffassung, dass jede Ansicht nur eine Ansicht sei. Kein Mensch könne Wahrheit für sich beanspruchen, denn jeder stehe auf einem einmaligen Standpunkt in der Welt, der sich von allen anderen unterscheide. Und da wir uns in der Neuzeit als prinzipiell gleichberechtigte Personen verstehen, könne die Ansicht des einen keine höhere Geltung beanspruchen als die des anderen. Die Losungen des Relativisten lauten: „Alle haben ihre eigene Realität!“, „Perception is reality“, zu deutsch: „Wahrnehmung ist Wirklichkeit“, „Du hast recht, und ich habe recht, jeder auf seine Weise!“

Formal ist diese Theorie schnell widerlegt: Hätten alle ihre jeweils eigene Realität, dann hätten wir kein gemeinsames Weltverständnis. Wir könnten uns dann nur von unseren subjektiven Eindrücken berichten, aber daraus könnte nie eine klare gemeinsame Orientierung gewonnen werden. Und auch die relativistische Kernthese („Jeder hat seine eigene Wirklichkeit“) könnten wir dann nicht gemeinsam wissen. Das heißt: Setzt man voraus, dass der Relativismus wahr ist, so zeigt sich, dass er bloß „genauso“ wahr oder falsch sein kann wie jede andere Aussage. Es gäbe keinen Grund, ihn zu akzeptieren.

Relativismus ist eine Scheinphilosophie. Anders gesagt: Er ist die Verweigerung vernünftigen Nachdenkens über das Gute und die Wege zu seiner Erreichung – verkleidet als Philosophie. Zum Glück leben wir nicht so: Wir kennen Wahrheit. Weil wir für unterschiedliche Bereiche Kriterien haben, die Wahrheiten von bloßen Behauptungen abheben. Wissenschaftler machen wahre Aussagen über die Natur, wenn sie den Ausgang ihrer Experimente vorhersagen und ihn dann wiederholbar nachweisen. Ein Anwalt trifft eine wahre Feststellung über das Recht, wenn das, worauf sein Argument sich stützt, auch so im Gesetz steht. Für Relativisten, die hier ihre abweichende Ansicht gleichberechtigt finden, haben wir im Alltag kein Verständnis.

Wie konnte aber eine so fadenscheinige „Theorie“ wie der Relativismus einen solch enormen Einfluss auf das Alltagsbewusstsein vieler Menschen – nicht zuletzt vieler Führungskräfte – gewinnen? Ich stelle zwei Thesen dazu auf, die hier nur kurz begründet werden können. Erstens: Relativismus schafft moralische Entlastung für eine Industriegesellschaft in der Veränderungskrise.

Wir wissen im Großen und erfahren im Kleinen, dass die aktuelle Ökonomie der Industriegesellschaften keinen Bestand haben wird; es gibt ein Krisenbewusstsein. Unsere Wirtschaftsordnung extrahiert und verbraucht endliche Ressourcen ohne Ersatz schaffen zu können, weshalb allenthalben in Richtung Nachhaltigkeit umgesteuert wird. In diesem Zusammenhang entsteht für viele die dringliche Frage, ob sie ihren eigenen Beitrag zu diesem Wirtschaftssystem verantworten können. Diesem realen Albdruck, den nachdenkende Menschen heute verspüren, kommt der Relativismus gelegen. Denn er versichert uns, dass es nur gleichwertige Ansichten, keineswegs aber moralische Wahrheiten und damit fundamentale Rechte des Menschen gibt. Hat der Relativismus recht, so gibt es keine wirklichen Forderungen an uns. Und damit gibt es auch kein Problem mit unserer Rolle im Gesellschaftssystem. Der Relativismus liefert uns also eine dankbare psychische Entlastung – die nach dem Grundsatz der Affektspiegelung umso glaubhafter und mächtiger wird, je mehr Menschen sie einander gewähren.

Zweitens verhält sich der Relativismus harmonisch zu hierarchischen Machtstrukturen. Dieser Punkt verlangt etwas denkerischen Anlauf: Dass der Relativismus formal leicht zu widerlegen ist, bedeutet nicht, dass er harmlos wäre. Vielmehr sabotiert er das Zusammenleben gleichberechtigter, um Selbstbestimmung bemühter Menschen grundlegend. Auf Basis vernünftigen Nachdenkens, das sich um Wahrheit bemüht, ist begründetes gemeinsames Handeln und Verantwortungsübernahme möglich. Im Relativismus ist dies unmöglich, weil Relativisten gar nicht erst erwarten, mit anderen geteiltes Wissen herstellen zu können. Überzeugungsarbeit scheint müßig; man probiert eben seine Ansichten aus und beobachtet vorsichtig die meinungsmeteorologische Lage, die sich aus ihnen durch die Reaktionen der Mitmenschen ergibt.

Diese Praxis hat eine schlechte Konsequenz: Für die realen Entscheidungssituationen des Lebens und Arbeitens bleibt so allein noch schlichte Unterwerfung der einen unter die anderen und deren Ansichten übrig. Dies aber ist am Ende nur die Anerkennung der stärkeren Gewaltmittel, die der eine im Zweifel auf den anderen anwenden könnte. Die Autorität des besseren Grundes ist entthront. Der scheinbar so tolerante Relativismus führt in eine Art demoskopischen Opportunismus, in dem die sozial mächtigste Ansicht sich die anderen ohne Prüfung ihrer eigenen Begründung unterwerfen kann. „Die Wahrheit wird der Relativität überantwortet, und der Mensch der Macht“, um es mit Theodor W. Adorno zu sagen. Diese Reduzierung der Diskussion unterschiedlicher Ansichten zu einem Thema auf eine Erkundung des „Meinungsklimas“ – dessen also, was sich gefahrlos sagen lässt und dessen, was man besser nicht sagt oder zumindest rhetorisch sicherheitsverpackt – verhält sich fatal harmonisch zu einer Eigenschaft der meisten Organisationen, in denen wir heute leben und arbeiten: Sie sind hierarchisch.

Hierarchie sichert den Ranginhabern strukturell einen Willkürvorbehalt der Entscheidung: Sie können, ohne sich unmittelbar und absehbar vor Dritten für ihre Gründe rechtfertigen zu müssen, Entscheidungen fällen, die andere dann binden. Dass es Hierarchien gibt, ist nicht per se eine böse Sache, und Ranginhaber einer Hierarchie sind keine schlechteren Menschen als andere. Jedoch ist es in dieser Rolle für sie sehr angenehm, wenn eine relativistische Haltung in ihrer Arbeitsumgebung es unwahrscheinlich macht, dass ihre Gründe für konkrete Entscheidungen konsequent hinterfragt werden, wenn es also keine gemeinsame Wahrheitssuche gibt. Bei der Wahrheitssuche wollen wir den Standpunkt finden, für den die besten Gründe sprechen. Stakeholder einer Organisation unterliegen aber der Versuchung, ihre Eigeninteressen stärker als Sachgründe zu gewichten. Und es ist weder populär noch risikolos, dies zutage zu fördern. Machtpolitik hat es in einem relativistisch „gepolten“ Umfeld immer leichter, sich durchzusetzen, als in einer Kultur ergebnisoffener Reflexion.

Relativismus ist für uns alle schädlich, gerade weil er eine konfliktvermeidende Haltung ist. Wir sollten uns weniger schnelles Einlenken, weniger geschmeidige Richtungswechsel und dafür mehr direkte Nachfragen wünschen. So können wir der bequemen, aber misslichen relativistischen Routine etwas Boden streitig machen. Auf diesem Boden können dann Ideen wachsen, die auf gemeinsam erarbeitetem Wissen beruhen. Denn wir akzeptieren dann, dass es etwas gibt, „was wir nicht ändern können“ (Hannah Arendt). Nennen wir es „Wahrheit“.

<strong>Michael Andrick ...</strong>

Michael Andrick ...

... ist promovierter Philosoph und seit 2006 in der Wirtschaft tätig. Sein letztes Buch „Erfolgsleere“ ist zugleich Gegenwartsdiagnose der Industriegesellschaft und Heranführung ans Philosophieren. Nebenberuflich schreibt er eine philosophische Kolumne in der Berliner Zeitung und hält Vorträge. Kontakt: derandrick.de

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