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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Marco Kalz aus managerSeminare 308, November 2023
Kein Tag vergeht, an dem uns nicht die scheinbare Unzulänglichkeit des Bildungssystems und seiner Institutionen vor Augen geführt wird. Wir hören nicht nur Forderungen nach einem radikalen Wandel dieses Bildungssystems, wir hören auch – wie ein tägliches Mantra – die lautstarke Forderung nach „Zukunftskompetenzen“ („Future Skills“), ob im Kontext der Hochschulbildung oder der beruflichen Weiterbildung. Der Drang, sich durch Aufsatteln neuer Skills auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten, scheint in einer Zeit, die von belastenden Krisen geprägt ist, ein logischer Reflex zu sein – der zusätzlich durch eine Reihe von Förderprogrammen angefeuert wird. Aber ist das Konzept der Future Skills (oder der „21st Century Skills“, wie man sie auch nennt), wirklich geeignet, um uns zukunftsfit zu machen?
In anderen Ländern hat man sich die Mühe gemacht, vor der Aufnahme von Programmen und Aktivitäten zur Förderung von Future Skills zunächst einmal zu schauen, inwieweit die entsprechenden Konzepte überhaupt durch Evidenz abgesichert sind. In Deutschland dagegen funktioniert der Future Skills Hype auch ohne Evidenz. Dabei haben internationale Reviewstudien zahlreiche theoretische und konzeptionelle Probleme rund um die Idee der Future Skills identifiziert.
Problem Nummer eins: Es ist weitgehend unklar, wie sich die sogenannten Zukunftskompetenzen überhaupt von existierenden Konzepten wie dem der Schlüsselkompetenzen oder transversalen Skills unterscheiden. Zudem wurden in einer kürzlich publizierten Übersichtsstudie aus dem Jahr 2022 neunundneuzig verschiedene Rahmenwerke zu Future Skills identifiziert, in denen insgesamt 341 verschiedene Skills enthalten sind. Schon diese Inflation lässt Zweifel daran aufkommen, ob dies tatsächlich neuartige Fähigkeiten sein können. Vielmehr legt die Erhebung den Verdacht nahe, dass man jedem neuen gesellschaftlichen Trend flugs mit einer vermeintlich neuen Fähigkeit begegnet. Dieser Trend wird gerade in Form der sogenannten KI-Kompetenzen fortgesetzt.
Problem Nummer zwei: Wenn von Future Skills die Rede ist, vermischen sich die Ebenen von Lernzielen, Lerninhalten und Methoden zu einem unklaren Wirrwarr. Ist zum Beispiel die häufig eingeforderte „Ambiguitätskompetenz“ tatsächlich eine Kompetenz? Ist sie eher eine Fähigkeit? Oder doch eine Disposition beziehungsweise ein Persönlichkeitsmerkmal? Man mag solche Fragen als akademische Spitzfindigkeit abtun, aber sie verweisen auf eine folgenreiche weitere Unschärfe im Konzept der Future Skills: Es ignoriert den Unterschied zwischen Wissen, Fähigkeit und Kompetenz, doch aus eben diesem Unterschied ergeben sich wichtige Implikationen für Bildungsangebote. Wenn zum Beispiel die sogenannte Ambiguitätskompetenz eher durch individuelle Dispositionen beeinflusst wird, dann haben kurzfristige Bildungsangebote in Form von „Future Skills Barcamps“ wenig Einfluss auf sie.
Ein drittes weitreichendes Problem, das der Future-Skills-Aktionismus mit sich bringt, ist, dass er zu einer impliziten oder sogar expliziten Abwertung des Fachwissens in der deutschen Bildungs- und Weiterbildungslandschaft geführt hat. Ein Beispiel ist der Hype um Methoden wie Design Thinking. Dieser erweckt den Eindruck, wir könnten uns Methoden ohne Inhalt aneignen und allein damit weiterkommen, frei nach dem Motto: Wer einmal ein stabiles Gebäude aus Strohhalmen gebaut hat, wird sicherlich auch Ideen für die Bekämpfung der Armut und Bildungsungleichheit entwickeln können. Tatsache aber ist: Bildungssoziologische Studien aus Großbritannien und Neuseeland haben zahlreiche negative Effekte der Abwertung von Wissen in Curricula aufgezeigt.
Umgekehrt gibt es keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz dafür, dass identifizierte Future Skills tatsächlich zu positiven Effekten führen – etwa auf den Bildungserfolg, den beruflichen Erfolg, die Zufriedenheit im Beruf oder das zivilgesellschaftliche Engagement. Zudem ist man zwar schnell dabei, eine Fähigkeit nach der anderen auf die lange Liste der Future Skills zu setzen, aber an Konzepten, mit welchen Lernangeboten diese Fähigkeiten vermittelt werden sollen und wie man die Performanz, also den Leistungsstand in den Skills feststellen und bewerten kann, fehlt es.
Hochschulen und Unternehmen setzen bei den Future Skills also auf ein Konzept, das theoretisch und konzeptionell schwach untermauert ist, das zur Abwertung des (wie Studien zeigen) nach wie vor wichtigen Wissens führt und keine deutlich positiven Effekte auf Kernvariablen für das lebenslange Lernen hat. Dabei laufen die Institutionen Gefahr, sich in einem Teufelskreis der Suche nach neuen Fähigkeiten, der Vermittlung und Feststellung dieser Fähigkeiten und der Untersuchung der langfristigen Effekte zu verstricken. Dies scheint mir keine aussichtsreiche Strategie zu sein. Stattdessen empfehlen die meisten Übersichtsarbeiten zu Future Skills, den Fokus auf bestehende Fähigkeiten und Kompetenzen zu legen, etwa auf die Problemlösekompetenz, die Metakognition, die Selbstwirksamkeit und den Lerntransfer. Gerade der Fokus auf das Thema Lerntransfer wäre aus meiner Sicht weitaus hilfreicher für die Zukunft als das Füllen von Listen mit immer mehr angeblichen Future Skills.
Unter Lerntransfer versteht man die Übertragung und Anwendung von Wissen und Fertigkeiten auf einen anderen Kontext oder eine andere Problemstellung. Dabei geht man davon aus, dass der Kontext des Wissens- beziehungsweise Fertigkeitserwerbs (und daran angrenzende Problemstellungen) als eine „nahe“ Transferumgebung zu betrachten ist, während es auch „weiter entfernte“ Kontexte und Problemstellungen gibt, in denen die Lernenden ihre Fertigkeiten und ihr Wissen später ebenfalls anwenden können sollten. Ausgehend von der Expertise der Lernenden besteht die Herausforderung somit darin, Lernumgebungen zu gestalten, in denen Menschen ihr Fachwissen und ihre Fähigkeiten in immer weniger bekannten Kontexten und für immer weniger vertraute Probleme anwenden können. Transfer kann hier als das Einlassen auf einen immer höheren Grad an Offenheit angesehen werden. Im Sinne der „Zone der nächsten Stufe der Entwicklung“ nach dem russischen Psychologen Lew Semjonowitsch Vygotsky wäre zudem sicherzustellen, dass die Herausforderungen gerade so anspruchsvoll sind, dass diese noch zu meistern sind.
Nimmt man die Ausgangsforderung, die dem Hype um die Future Skills zugrunde liegt, ernst, nämlich, dass es darum geht, die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit zu lösen, dann versteht sich von selbst, dass bei diesem Lerntransfer die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Fachexpertinnen und -experten aus unterschiedlichen Domänen notwendig ist und dass monodisziplinäre Herangehensweisen nicht greifen. Die Herausforderungen, die sich für Bildungsinstitutionen und Unternehmen daraus ergeben, sind weitaus größer, als es das Konzept der Future Skills erahnen lässt. Doch die Future Skills sind eine willkommene Einladung, die überfällige Diskussion über den Wandel der Lernumgebungen und Bildungsinstitutionen gar nicht erst anzugehen. Unter dem Deckmantel von Begriffen wie „New Learning“ oder „4K“ werden aus den Herausforderungen der gesellschaftlichen Umwandlung angebliche neue Kompetenzanforderungen, wird ein vermeintlicher Wandel des Lernens herbeigeredet. Doch Lernen als sozio-kognitiver Prozess unterliegt keinen solchen schnellen Veränderungsprozessen.
Wenn wir ernsthaft Lernende darauf vorbereiten wollen, Zukunftsprobleme zu lösen, dann sollten wir stattdessen über den Wandel der Lernumgebungen diskutieren, damit diese auch „weiten“ Lerntransfer und interdisziplinäres Problemlösen erlauben. Um es klar zu sagen: Wir brauchen keine Transfer-Skills, sondern tatsächlichen Lerntransfer!
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