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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Klaus Eidenschink aus managerSeminare 325, April 2025
Stabilisierter Konflikt: Wie lineare Schuldzuweisungen Konflikte stabilisieren
Blöder Stuhl: Warum Vorwürfe beliebt sind und Konflikte so stabil halten
Zirkuläre Erklärung: Wenn alle Parteien Konfliktgründe für die Gegenseite liefern
Falsches Verständnis: Warum es nicht immer besser ist, die Schuld bei sich zu suchen
Reflexionsfragen: Welche Kompetenzen die Selbstregulation an beiden Streitpolen voraussetzt
Im Führungskreis herrscht dicke Luft. Eine Montagelinie steht still, weil ...? Genau das ist die Frage. Vorwürfe werden hin und her gereicht. Auf jede Anschuldigung folgt eine Zurückweisung, verbunden mit einer Gegenanschuldigung. Je länger es dauert, desto rauer wird der Ton. Die Führungskraft versucht zu vermitteln, scheitert jedoch ein ums andere Mal ... Solche Szenen sind Alltag in Unternehmen. Viel kommt dabei nicht heraus, im Gegenteil: Wenn Schuldklärungsversuche in der Kommunikation Raum greifen, neigt das soziale System „Konflikt“ dazu, sich immer mehr zu stabilisieren. Streit gedeiht nämlich prächtig, wenn möglichst jede Mitteilung mit einem Nein beantwortet wird. Und kaum etwas eignet sich besser als Vorwürfe, damit beide Parteien glauben, sich immer inbrünstiger verteidigen zu müssen.
Dieses Hochschaukeln durch Vorwürfe funktioniert so zuverlässig, weil wir Menschen – schon von klein auf – ungern an etwas schuld sein wollen. Schuldgefühle sind besonders unbeliebt, wenn sie von außen stimuliert werden, weil hier neben anderen psychodynamischen Gründen auch Ausgrenzungsängste, Angst vor Verlust der Bindung, Scham, verletzte Gerechtigkeitswünsche usw. mit hineinspielen. Hinzu kommt, dass viele Menschen ein Leben lang gewohnt sind, Selbstvorwürfe für die Selbststeuerung zu nutzen. Und wer sich bereits selber Vorwürfe macht, möchte gewiss nicht auch noch welche von außen bekommen. In der Schuld hat das soziale System „Konflikt“ also einen effektiven Ansatzpunkt, um Menschen in die Eskalation zu ziehen. Gerade Menschen, die an nichts schuld sein wollen, sind so gesehen eine ideale Beute für Konflikte.
Hat sich ein Konflikt etabliert, dreht sich die Kommunikation schnell vor allem darum, wer angefangen hat. Das ist auch verständlich, weil die Ursache-Wirkungs-Forschung Kontrolle suggeriert und daher bei etwas so Unkalkulierbarem wie Konflikten zwangsläufig eine beliebte Strategie ist. Die Frage nach dem Anfang führt – nachdem es in den bisherigen Teilen der Textreihe „Liebe Konflikte“ um die Sach- und die Sozialdimension von Konfliktkommunikation gegangen ist – in die Zeitdimension der Konfliktdynamik, genauer: in den Erklärungsmodus (s. Kasten).
Den Beiträgen dieser Serie liegt ein systemtheoretisches Verständnis zugrunde, das Klaus Eidenschink u.a. in seinem Buch „Die Kunst des Konflikts“ ausführt. Demnach sind Konflikte …
… kein Missgeschick im menschlichen Miteinander, sondern etwas, was überall stattfindet, wo Interessen und Sichtweisen aufeinandertreffen. Konflikte sind demnach auch nicht zu lösen, sondern nur (vorübergehend) zu beruhigen – und müssen bisweilen sogar verschärft werden.
… notwendig, um eine bestehende Ordnung aufzubrechen bzw. eine neue zu etablieren. Konflikte sind demnach nicht immer schlecht, und Konsens ist nicht immer gut, vielmehr geht es um die Frage, wann ein Konflikt bzw. ein Konsens schädlich ist oder hilfreich.
… unkalkulierbar und unkontrollierbar. Sie folgen dabei eigenen Regeln, wobei sie den Konfliktbeteiligten aber immer wieder die Wahl lassen, eskalierend oder deeskalierend weiterzumachen.
Ob sich Konflikte ausweiten oder abschwächen und welche Form sie dabei konkret annehmen, lässt sich nach Eidenschink anhand von insgesamt neun Polaritäten zeigen, die im Laufe dieser Serie thematisiert werden (s. Grafik). Im aktuellen Teil geht es um den sogenannten Erklärungsmodus auf der Zeitdimension, genauer: um den Gegensatz von linearem und zirkulärem Denken. Dabei geht es um die Frage, ob wir die Schuld für den Konflikt nur bei der Gegenseite suchen, oder auch bei uns selbst.
Wie in den vorangegangenen Teilen gibt es auch hier zwei Pole, zwischen denen sich der Konflikt immer wieder neu entscheiden kann, wobei er sich entweder auflädt oder abschwächt. Die erste Variante ist die lineare Erklärung. Sie liegt vor, wenn eine Partei angefangen hat und die andere sich wehren muss. Es entsteht eine direkte monokausale Verantwortung: Wer angefangen hat, hat Schuld. Die zweite – zirkuläre – Variante liegt vor, wenn die Schuld nicht eindeutig zuzuweisen ist, weil beide Seiten Anlass geben für das Verhalten der jeweiligen anderen. Aber bleiben wir zunächst beim ersten Fall.
Wesentlich für die Kausalität, die bei der linearen Schuldzuweisung konstruiert wird, ist, dass beim anderen angefangen wird. Es heißt nicht „Weil ich, musst Du ...“, sondern eben „Weil Du, muss ich ...“. Der Nutzen, den die Konfliktdynamik aus dieser Form der Auslösezuschreibung zieht, hat weder mit der Sache (und wie sie bearbeitet werden könnte), noch mit dem Beziehungsgeschehen (und wie Bezogenheit gestaltet werden könnte) zu tun. Es geht vielmehr um etwas, was man als zeitliche Strukturbildung bezeichnen kann. Die Logik dahinter lässt sich so beschreiben: Wenn die Vergangenheit definiert ist, lassen sich daraus Gegenwart und Zukunft legitimieren. Man könnte auch sagen: Der Konflikt reduziert die Komplexität einer multideterminierten Gegenwart und einer offenen Zukunft, indem er in der Vergangenheit Halt zu finden versucht. Die unausgesprochene Hoffnung dabei: Wenn erst mal geklärt ist, wer angefangen hat, ergeben sich die Schritte, um eine neue Ordnung zu finden, vielleicht von ganz allein.
Was sich tatsächlich dabei ergibt, wenn eine Seite der anderen die Schuld am Streit gibt, ist jedoch oft eher das Gegenteil. Nicht umsonst ist der Vorwurf das wichtigste kommunikative Mittel, mit dem sich der Konflikt aufrechterhält. Wobei „Du hast angefangen“ eine deutliche Beschuldigung, aber bei Weitem nicht die einzige ist. Der Konflikt ist nämlich ziemlich raffiniert und schnell, wenn es darum geht, immer neue Gründe für Vorwürfe und Gegenvorwürfe bei den Beteiligten entstehen zu lassen. Dabei greift er vor allem auf zwei „Kompetenzen“ zurück.
Die erste ist, dass viele Menschen dazu neigen, enttäuschte Erwartungen als Folge einer absichtlichen Handlung von anderen zu interpretieren. Menschen stoßen sich am Stuhlbein und sagen „Blöder Stuhl!“, was albern ist, weil einem Stuhl ja kaum eine Absicht zu unterstellen ist. Es ist jedoch ein tief verankertes psychisches Verstehensmuster, dass man für die Widrigkeiten des Lebens Urheber sucht: das böse Schicksal, böse Geister, böse Menschen, die böse Politik, den bösen Kapitalismus usw. Denn wer einen Täter hat, kann Vorwürfe machen und erlebt sich dadurch als handlungsfähig. Es hilft, wenn man vor Empörung losbrüllen kann. Sich als betroffen, geschädigt, beeinträchtigt, in Frage gestellt oder benachteiligt zu fühlen, weil andere etwas falsch gemacht haben, verschafft eine ungemeine seelische Erleichterung. Und wer glaubt, vorwurfsvoll sein zu dürfen, kann sich auch dazu berechtigt fühlen, zurückzuschlagen. Vorwurfslegitimation schafft im sozialen Feld also sowohl Identität als auch Handlungsoptionen.
Es ist ein tief verankertes Muster, dass man für die Widrigkeiten des Lebens Urheber sucht: das böse Schicksal, böse Geister, böse Menschen, die böse Politik, den bösen Kapita lismus usw. Denn wer einen Täter hat, kann Vorwürfe machen und erlebt sich dadurch als handlungsfähig..
Eine zweite Neigung der Psyche, auf die der Konflikt zurückgreifen kann: Menschen haben oft wenig Ohnmachtstoleranz und versuchen daher, in der kontrollierenden und mächtigen Position zu bleiben oder möglichst schnell wieder dorthin zu gelangen. Der Vorwurf, der andere habe angefangen, ermöglicht es, auf der moralischen Ebene eine Machtposition einzunehmen. Kinder erfassen das schon sehr früh, wenn sie Dinge sagen wie „Mäxchen hat angefangen“. Ein Teil der Macht entsteht daraus, dass man neutrale Seiten in die Parteilichkeit „zwingen“ kann. Dritte identifizieren sich in Konflikten bevorzugt mit den Opfern. Haben sie Hinweise dafür, wem Unrecht angetan wurde, werden Koalitionen gebildet und Retteraktivitäten vom Stapel gelassen: „Max, gib sofort die Schaufel zurück!“
Im eingangs geschilderten Meeting läuft genau die beschriebene Dynamik: „Du solltest doch ...“ trifft auf „Ich konnte doch nicht, weil Ihr ...“. In Organisationen gibt es für Konflikte im Erklärungsmodus ein eigenes Medium: Accountability. Wer zuständig ist, sich aber seiner Verantwortung nicht gewachsen zeigt, wird dabei automatisch zum Adressaten für Vorwürfe. So nutzen Organisationen Rollenerwartungen, um lineare Zuschreibungen für konflikthafte Prozesse zu ermöglichen. Das hat nicht unbedingt etwas mit Gerechtigkeit zu tun, aber viel mit Reduktion von Komplexität. Zustelladressen für Vorwürfe zu haben – Personen, Gruppen, Gremien oder Strukturen – ist aus organisationstheoretischer Sicht eine der wichtigsten Formen, um Konflikte schnell in Ursache-Wirkung-Zusammenhänge zu bringen, notfalls auch abgekoppelt von einer inhaltlichen „Lösung“. Das viel beklagte Phänomen, dass in Organisationen lieber die Schuldfrage geklärt wird, als das Problem zu lösen, hat also einen systemischen Grund. Die gesamte Entscheidungskommunikation beruht letztlich auf der Zurechnung von Urheberschaft.
Beschuldigen ist auch deshalb so wichtig, weil sich Konflikte auf der Ebene sachlichen Widerspruchs nur begrenzt verschärfen lassen. Im sachlichen Widerspruch kann man nur sagen „Ich sehe das anders!“. Aber irgendwann ist das einfach oft genug gesagt, eine weitere Wiederholung nutzt dann wenig. Im zeitlichen Widerspruch kann man aber „Du bist schuld!“ sagen und diesen Vorwurf endlos wiederholen, jeweils noch erbitterter vortragen und mit immer neuen ungünstigen Auswirkungen verknüpfen. Dies hat wiederum fast zwangsläufig eskalierende Auswirkungen auf die soziale Ebene. Der so Beschuldigte wird zum Feind, von dem nichts Gutes mehr zu erwarten ist (s. Teil 5 dieser Serie zum Kontaktmodus) und dem deshalb widersprochen werden kann, noch bevor man weiß, was er sagen will (s. Teil 6, Reaktionsmodus).
Der Gegenpol zur linearen Schuldzuschreibung heißt wie schon erwähnt „zirkulär“. In dieser Version wird die Verantwortung nicht monokausal zugeeignet, vielmehr haben alle zum Konflikt beigetragen und tun es weiter, sodass jeder seinen Beitrag auf die Aktion des anderen zurückführen kann. Damit haben alle gleichermaßen Schuld. Ein Satz, der diese Struktur etabliert, lautet: „Ich mache das, weil Du ...“ Oder auch: „Erst wenn Du, werde ich ...“ Wie sich das zirkuläre Denken auswirkt, lässt sich am Meeting-Beispiel zeigen. Dort eskalieren die Vorwürfe, bis einer der Beteiligten sagt: „So geht es doch nicht weiter. Seht Ihr denn nicht, dass hier alle Dreck am Stecken haben? Jeder tut so, als ob er selbst die Rechtschaffenheit in Person sei. Wir wissen doch alle, dass das nicht stimmt!“
Beobachtet und analysiert man eine Situation nicht linear, sondern zirkulär, geben die Parteien nicht nur den anderen die Schuld, sondern nehmen auch die eigenen Beiträge zum Streit wahr und bekennen sich dazu. Zirkulär zu denken, heißt also nicht, auf die Schuldfrage zu verzichten, sondern die Adressatenliste zu erweitern. Man kann schließlich nicht so tun, als gäbe es keine Reize, die sich konflikthaft auswirken. Aber man kann die Beobachtungsperspektive ändern: Wie bedingen und stabilisieren sich die Verhaltensweisen der Konfliktparteien wechselseitig?
Accountability in Organisationen bedeutet: Wer zuständig ist, sich aber seiner Verantwortung nicht gewachsen zeigt, wird automatisch zum Adressaten für Vorwürfe. Das hat weniger mit Gerechtigkeit zu tun, als mit der Reduktion von Komplexität.
In der Formulierung von Paul Watzlawick liest sich das so: „Die Frau nörgelt, der Mann geht ins Wirtshaus. Warum nörgelt die Frau? Weil der Mann ins Wirtshaus geht. Warum geht der Mann ins Wirtshaus? Weil die Frau nörgelt!“ Das lässt sich noch weiter denken: Gäbe es keine Wirtshäuser, gäbe es auch diesen Vorwurf nicht. Gäbe es nicht die konfliktscheue Freundin der Frau, die ihre Nörgelei nicht anspricht, hätte die Frau vielleicht schon längst aufgehört. Gäbe es Kinder, die sich einmischen könnten, wäre die Situation ebenfalls eine andere. Alles trägt bei, alles hat damit auch Schuld.
Für Beteiligte, aber auch für Moderatoren gilt es bei zirkulären Erklärversuchen auf folgende Aspekte zu achten:
Der letztgenannte Aspekt ist im Fall unseres Meetings besonders wichtig. Wie sich herausstellt, haben nämlich einige Personen aus dem Betriebsrat das Desaster durchaus kommen sehen, aber geschwiegen. Denn der Stillstand der Produktion dient ihnen als willkommenes Argument, um den schon lange beklagten Personalmangel zu belegen. Dass sie das in Kauf nehmen, ist nicht zuletzt auf die fehlende Dialogbereitschaft des Managements zurückzuführen. Die Vorwurfsorgie im Meeting erweist sich damit als Symptom eines ganz anderen Konflikts. Der Werksleiter muss einsehen, dass es letztlich seine Gesprächsverweigerung war, die diesen Nebenkriegsschauplatz erzeugt hat.
Zum Verständnis der zirkulären Erklärung von Konfliktdynamiken gehört, jederzeit aus Anklage Selbstanklage werden lassen zu können. Das ist oft verwickelter und schwieriger, als man meint, vor allem, wenn die Konfliktparteien erst mal erkennen müssen, dass sie selbst es sind, die am Kampf um die Schuld des anderen festhalten – und damit das Konfliktsystem nähren. Dabei sind die meisten Konflikte auf zirkuläres Denken angewiesen, sollen sie nicht im Aug um Aug, Zahn um Zahn festlaufen. Soll ein Konflikt die Aufgabe erfüllen, eine neue Ordnung zu etablieren, dann ist ein Verständnis dafür, was jeder beigetragen hat und beiträgt, essenziell. Das ist viel komplexer als lineare Vorwürfe, macht aber auch Raum frei für neue Möglichkeiten. Die Paradoxie der Unlösbarkeit von Konflikten wird so anders bearbeitet.
Das heißt übrigens keineswegs, dass zirkuläres Denken automatisch überlegen oder richtig ist. Zwar wird ihm das – gerade in systemischen Kreisen – häufig zugeschrieben, in Konflikten kann sich das jedoch fatal auswirken. Man denke nur etwa an eine Ehe, in der der Partner regelmäßig gewalttätig wird, und in der die geschlagene Frau den Grund dafür nur im eigenen Verhalten („Ich liebe ihn nicht genug!“) sucht. Hier wäre es wichtig und richtig, dass die Frau absolut linear denkt und den Mann klar als Täter benennt, und ihre eigene Schuld allenfalls darin erblickt, dass sie sich selbst schlecht behandelt. Hier zirkulär zu denken, wäre zynisch, falsch und ein Missbrauch dieses Konfliktpols.
Auch in Organisationen finden sich dysfunktionale (Macht-)Beziehungen. Wer hier zirkuläre Verantwortung einfordert, übersieht Abhängigkeitsverhältnisse und das Vorhandensein struktureller Gewalt. Wer auf der anderen Seite nur die Täter, zum Beispiel übergriffige Führungskräfte, anklagt, droht, den Autonomiespielraum zu negieren, den Menschen ja durchaus haben (auch wenn sie ihn sich oft selbst absprechen). Ich bin immer wieder erstaunt, wie sich Menschen über Jahre und Jahrzehnte dafür entscheiden, sich von Vorgesetzten quälen und ausbeuten zu lassen, nur um einen bestimmten Lebensstandard aufrechterhalten zu können, anstatt einfach zu gehen oder die Konfrontation zu suchen.
Zusammengefasst geht es im Leitprozess „Erklärungsmodus“ also um die Frage, ob man die Verantwortung für den Konfliktbeginn linear – beim anderen – oder zirkulär – bei allen – sucht. Für diese Entscheidung brauchen die Konfliktparteien Kompetenzen, die gar nicht so selbstverständlich sind.
Wer Vorwürfe funktional nutzen können möchte, braucht ein positives Verhältnis zur Aggression – der eigenen und der von anderen Menschen. Diese „konstruktive Aggression“ erkennt man daran, dass man nicht um jeden Preis sicherstellen will, anderen kein Unrecht zu tun. Wer beschuldigt, kann sich irren – das muss man ertragen können. Aber auch im reaktiven Fall geht es nicht ohne Aggression. Die Fähigkeit, Beschuldigungen anderer bestimmt und kontaktvoll zurückzuweisen, ist unerlässlich in diesem Leitprozess. Wer immer gleich im zirkulären Stil die eigenen Schuldanteile sucht, kann in symbiotische Ausbeutungsbeziehungen geraten bzw. die eigenen Interessen in notwendigen Konflikten nicht angemessen vertreten. Tit for tat – also Gleiches mit Gleichem zu beantworten, ist in Konflikten oft nötig, um überhaupt in eine verhandlungsfähige Position zu kommen. Sonst wird man nicht ernst genommen.
In Konflikten kommt es schnell zu gegenseitigen Vorwürfen, welche Seite angefangen hat – und welche folglich zu Gegenreaktionen legitimiert ist. Weil das häufig in die Eskalation führt, braucht es die Einsicht dafür, was man selbst zum Streit beigetragen hat, sagt Klaus Eidenschink. Doch auch die Selbstbeschuldigung ist problematisch.
Beim linearen Vorwurf „Du hast angefangen“ geht es nur zum Teil darum, zu klären, wer wirklich Schuld hat am Streit. Wir brauchen vielmehr einen Schuldigen, um unser eigenes Verhalten im Konflikt zu legitimieren. Außerdem erleben wir uns, wenn wir anderen Vorwürfe machen können, als handlungsfähig. Täter anzuklagen und selbst nicht schuld sein zu müssen, verschafft eine ungemeine seelische Erleichterung.
Vorwürfe machen ist auch deshalb so wichtig, weil sich Konflikte auf der Ebene sachlichen Widerspruchs nur begrenzt verschärfen lassen. „Das sehe ich anders“ ist weniger wirksam als „Du bist schuld!“. Allerdings taugt kaum etwas besser dazu, einen Konflikt zu stabilisieren als Vorwürfe, die in der Regel eine Zurückweisung hervorrufen, verbunden mit einer Gegenanschuldigung. Streit eskaliert damit zwangsläufig.
Sollen sich Konflikte nicht festlaufen, sondern ihre Aufgabe erfüllen, eine neue Ordnung zu etablieren, dann ist ein Verständnis dafür, was jeder – auch man selbst – zum Streit beigetragen hat, essenziell. Das zirkuläre Denken, das die Schuld auf allen Seiten sucht, ist damit aber nicht automatisch besser. In dysfunktionalen (Macht-)Beziehungen kann es dazu führen, dass man seine eigenen Interessen nicht ausreichend vertritt. Bei beobachtetem Unrecht ist die lineare Schuldzuweisung die angemessenere Reaktion.
Wie es um die eigene positive Haltung zur Aggression steht, lässt sich in einem kleinen Self-Assessment prüfen: Wer stark zum harmonischen Miteinander neigt und erschrickt, wenn das Gegenüber laut wird; wer eine Tendenz zu gekränktem Rückzug, zum stillen Anklagen und nachtragendem Verhalten hat; wer das Konkurrieren und Sich-miteinander-Messen weder in der Kindheit noch später eingeübt hat, hat da möglicherweise was nachzuholen. Immerhin: Es ist dafür nie zu spät. Regulationsfähigkeit am Pol „linear“ bedeutet dabei nicht, unnötig auszuteilen, sondern sich nicht gleich in Sack und Asche zu kleiden, wenn man beschuldigt wird, und seinerseits auch andere beschuldigen zu können, wenn es nötig ist. Letzteres ist auch deshalb wichtig, weil man nicht verzeihen kann, was nicht auch angeklagt worden ist. Folgende Reflexionsfragen helfen, die eigene „Linearitätskompetenz“ einzuschätzen:
Auch für die zirkuläre Betrachtung eines Konfliktsystems braucht es Kompetenzen. Vor allem muss man in der Lage sein, das eigene Verhalten kritisch zu bewerten, Reue zu empfinden und sich selbst innerlich auf die Anklagebank zu setzen. Das können manche so gut, dass sie nichts anderes machen. Andere können es so schlecht, dass sie es nie tun. Um herauszufinden, ob man ein Problem mit dem Phänomen „Schuld“ hat, hilft abermals ein Blick auf sich selbst, vor allem auf drei typische Verhaltensweisen.
Wenn man zum Beispiel immer wieder empfindlich auf den Satz „Du bist schuld“ und andere Vorwürfe reagiert, ist das ein Hinweis, dass man sich ohnehin schon selbst Vorwürfe macht. Kommt zum inneren Ankläger noch ein äußerer hinzu, entsteht so eine Zwei-zu-eins-Situation gegen den inneren Angeklagten. Solche inneren Konflikte stülpen sich zwecks Spannungsabbau nach außen und sind dort nicht mehr günstig bearbeitbar. Gibt man häufig anderen die Schuld, könnte das zudem auf einen Perfektionsanspruch an sich selbst hinweisen. Wer ein Selbstbild pflegt, welches fehlerlos zu sein hat, ist in Konflikten sofort unter Spannung, da nie auszuschließen ist, dass der Fehler vielleicht doch bei einem selbst liegt. Kann man sich nur schwer entschuldigen und die Entschuldigung anderer nicht gut annehmen, dann ist das ebenfalls ein Hinweis, dass man anfällig ist für dysfunktionale Entwicklungen in Konflikten. In diesem Fall fehlt eine wichtige Selbstwahrnehmung, was zu dysfunktionaler Härte und Vorwürfen nach außen führen kann. Keiner ist ohne Schuld, entschuldigen können ist unerlässlich.
Folgende Reflexionsfragen helfen, den eigenen Nachholbedarf in Sachen „Zirkularitätskompetenz“ zu ermessen:
Abschließend noch ein Wort zum Umgang mit Schuld in Organisationen. Dort gibt es immer Konflikte, deren Verursachung wie beschrieben geklärt werden muss, weil sonst die Verantwortlichkeiten unklar bleiben und Entscheidungen erschwert werden. Also müssen Menschen in organisationalen Rollen ganz besonders in der Lage sein, Vorwürfe sowohl zu machen als auch entgegenzunehmen. Sie müssen sich selbst Vorwürfe machen können, ohne sich deshalb als schlechter Mensch zu fühlen. Und sie müssen die Selbstvorwürfe anderer fördern oder erschweren können, je nachdem ob diese angemessen oder unangemessen sind.
Zur Regulations fähigkeit gehört, andere beschuldigen zu können, wenn es nötig ist. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil man nicht verzeihen kann, was nicht auch angeklagt worden ist.
Organisationen sind bei der Leitunterscheidung „Erklärungskompetenz“ in ganz besonderem Maß darauf angewiesen, dass ihr Personal Konflikt in beiden Formen erklären kann. Andernfalls setzen sich einseitig vor allem diejenigen durch, die zum Beispiel gut mit Aggression und linearen Schuldzuweisungen umgehen können. Konflikte wuchern dann leichter in Vorwurfskommunikation aus, die keine sachlichen Klärungen mehr zulässt.
Der Autor: Klaus Eidenschink berät und coacht Führungskräfte – insbesondere das Topmanagement großer Konzerne – in Fragen der Konfliktklärung, des Changemanagements und bei komplexen Entscheidungen, zudem führt er Coach- und Trainerausbildungen durch. Hintergrund seines Beratungsstils sind u.a. Ausbildungen und Erfahrungen in humanistischen Psychotherapieverfahren, Systemtheorie sowie Organisations- und Führungspsychologie. Kontakt: eidenschink.de
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