Führung meets Coaching
Führung meets Coaching

Bewertungsfrei zuhören

Martin Wehrle erklärt, warum es so wichtig ist, beim Zuhören nicht sofort in den Bewertungs-Modus zu schalten und wie das gelingt.

Neulich war ich dabei, als ein Bewerber im Vorstellungsgespräch sagte: „Ich liebe es, bei meiner Arbeit unkonventionelle Wege zu gehen.“ Kaum war der Bewerber draußen, sagte die Führungskraft, die für ihr Team Unterstützung suchte, zu den weiteren Personen in der Runde: „Das ist einer, der immer macht, was er will. Der kann sich nicht in feste Abläufe eingliedern.“ Die anderen nickten.

Aber hätte man nicht genauso gut sagen können: „Das ist ein Pionier, der uns mit neuen Impulsen vorwärtsbringt.“ Oder: „Das ist ein guter Selbstverkäufer, der seinen USP perfekt kennt.“ Oder: „Das ist ein Narzisst, der sich völlig überschätzt und für etwas Besseres hält.“ Solche Interpretationen sagen weniger über den Sprechenden, aber umso mehr über den Zuhörenden aus: Jeder und jede lässt eine Aussage durch den Filter der persönlichen Werte und Erfahrungen laufen. Vielleicht hat die Führungskraft schlechte Erfahrungen mit eigenwilligen Mitarbeitenden gemacht. Oder sie ist selbst ein eigenwilliger Mensch, der diese Eigenschaft unterdrückt und in andere projiziert?

Im Coaching gilt der Grundsatz: Lass Aussagen anderer auf dich wirken, ohne sie zu interpretieren. Nimm sie einfach, wie sie sind. Wenn jemand sagt, er liebt unkonventionelle Wege, dann hat er genau das gesagt. Nicht mehr und nicht weniger. Was ist der Vorteil dieses bewertungsfreien Zuhörens? Erstens wird vermieden, dass alles Weitere durch den Filter der ersten Interpretation läuft. Denn denjenigen, die ihr Gegenüber für einen Querkopf halten, kann sogar die Tatsache, dass es seinen Kaffee schwarz trinkt, als weiteres Indiz dafür erscheinen. Dann führt einen die subjektive Wahrnehmung in die Irre, wie es Paul Watzlawick in seinem anschaulichen Beispiel beschreibt: „Reden Sie sich ein, alle Ampeln der Stadt haben sich gegen Sie verschworen und werden rot, sobald Sie sich nähern – und Sie werden sich bestätigt sehen!“

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Zweitens sorgt diese Offenheit dafür, dass ein Gespräch spannend bleibt. Der Gesprächspartner ist ein ungelöstes Rätsel, es gibt etwas zu entdecken. Und aus dieser Haltung resultiert der dritte Vorteil: Wenn man offen ist, werden sich viele Fragen an das Gegenüber ergeben. In diesem Fall etwa: „Was verstehen Sie unter unkonventionellen Wegen?“, „Geben Sie mal ein Beispiel, wann Sie einen solchen Weg eingeschlagen haben.“, „Wie gehen Sie damit um, wenn die Arbeit konventionelle Wege erfordert?“, „Welche konventionellen Wege könnten Ihnen die Freude an der Arbeit verderben?“

Immer wenn wir jemandem zuhören, sollten wir uns fragen: „Hat sie oder er tatsächlich gesagt, was ich zu hören meine? Oder ist das nur meine Deutung?“ Diese Haltung sorgt dafür, dass sich keine vorschnellen Urteile bilden und man mit aufrichtigem Interesse im Gespräch ist. Das ermöglicht es, sich über die andere Person wirklich zu informieren, statt sie nur zu interpretieren. Das gelingt umso mehr, weil man so eine Offenheit ausstrahlt, die auch offene Antworten nach sich zieht. Vielleicht hätte der zitierte Bewerber viel zu bieten gehabt. Aber um das zu bemerken, hätten die Führungskräfte nicht so schnell urteilen dürfen.

Der Autor: Martin Wehrle ist Karrierecoach und Coachausbilder mit eigener Akademie in Hamburg. Sein aktuelles Fachbuch heißt „Die Coaching-Schatzkiste“. Kontakt: www.karriereberater-akademie.de

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