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Erfülltes Leben
Erfülltes Leben

Glück allein macht keinen Sinn

Dem Menschen liegt nicht nur sein eigenes Wohlergehen am Herzen. Er braucht auch einen Sinn im Leben, eine Bedeutung für andere oder für etwas von Wert, das über ihn selbst hinausweist. Friedemann Schulz von Thun nennt dies Sinnerfüllung. Wie wir diese finden und wie sich der Dauerkonflikt zwischen Sinnerfüllung und Wunscherfüllung moderieren lässt, schildert er im zweiten Teil dieser Serie über ein erfülltes Leben.

Preview

Hedonistisch vs. eudaimonistisch: Warum sich Wunscherfüllung (Alpha) und Sinnerfüllung (Beta) regelmäßig in die Haare geraten

Mit beiden Stimmen reden: Wie wir zu Lösungen kommen, die uns selbst gerecht werden

Doppelte Dienstpflicht: Warum wir nicht nur dem größeren Ganzen verpflichtet sind, sondern auch uns selbst

Fataler Fokus: Was uns droht, wenn wir unser Leben (nur) unter den Leitstern von Alpha oder (nur) unter den von Beta stellen

Bedürfnis trifft Berufung: Unter welchen Bedingungen Alpha und Beta zu einem glückhaften „Alphabet“ verschmelzen

Sinnhafte Fragen: Wie wir unser eigenes Leben im Hinblick auf Sinnerfüllung ausleuchten können

Cover managerSeminare 316 vom 14.06.2024Hier geht es zur gesamten Ausgabe managerSeminare 316

Offenbar ist der Mensch nicht nur darauf aus, das eigene Wohlbefinden zu steigern und zu sichern – zu erstreben und zu empfangen, was seinem Körper und seiner Seele guttut. „Glück allein macht keinen Sinn“ – lautet ein schöner Buchtitel von Emily Smith. Der Mensch will auch gebraucht werden. Für etwas da sein, was über ihn selbst hinausgeht, was „mehr“ ist als nur er selbst. Denn wir alle sind Teil von etwas – Teil einer Familie, einer Nachbarschaft, eines Teams, eines Unternehmens, einer Kommune, einer Nation, einer Menschheit, einer Schöpfung. Wir sind Teile von verschiedenen „Ganzen“. Zum Gelingen dieser „Ganzheiten“ beizutragen, ist uns existenziell aufgegeben, nicht (nur) als sittliches Gebot, sondern auch als Urbedürfnis der menschlichen Seele. Wenn wir unsere Bedeutung für das Ganze erfahren – wenn auch nur im kleinsten Maßstab –, dann wissen wir, dass wir „Sinn machen“, dann erleben wir Erfüllung.

In meinem kleinen Modell eines erfüllten Lebens, das mir hilft – und womöglich auch Ihnen –, das eigene Leben und das anderer mit verschiedenen Brillen in Hinblick auf Erfüllung zu betrachten, nenne ich diese Art der Erfüllung Sinnerfüllung, oder auch Erfüllung vom Typus Beta (siehe Grafik). Hier lautet die Frage nicht „Was hat sich für mich erfüllt?“ (Sehnsüchte und Wünsche), sondern „Was hat sich durch mich erfüllt?“.

Das 4 + 1 = 5-Felder-Modell eines erfüllten Lebens

Erfüllung vom Typus Alpha: Welche meiner Herzenswünsche haben sich erfüllt?

Erfüllung vom Typus Beta: Was hat sich durch mich erfüllt?

Erfüllung vom Typus Gamma: Welcher Erlebnisreichtum ist auf meinem Lebensweg entstanden?  

Erfüllung vom Typus Delta: Inwieweit bin ich mir bewusst und davon berührt, dass mein Dasein an sich Erfüllung ist, in jedem Augenblick?

Erfüllung vom Typus Omega: Inwieweit habe ich das verwirklicht, was mich zutiefst ausmacht und was als Möglichkeit in mir steckt?

Quelle: managerseminare.de; Friedemann Schulz von Thun: Erfülltes Leben. Hanser 2021.

Wie verhält sich diese Art von Erfüllung zu der im ersten Teil dieser Serie besprochenen, wie verhält sich Alpha zu Beta? Wenn es wirklich ein Bedürfnis der menschlichen Seele ist, zum Gelingen des Ganzen oder besser gesagt „der eigenen Ganzheiten“ beizutragen, wie sollte sich dieses Bedürfnis anders ausdrücken als in Form von Wünschen? Ist Sinnerfüllung also nicht einfach nur eine Spielart der Wunscherfüllung? Gehört diese Art der Erfüllung im Modell nicht bereits in den Quadranten Alpha?

Wunscherfüllung und Sinnerfüllung: artverwandt aber anders ausgerichtet

Logisch betrachtet ja, psychologisch gesehen nur teilweise. Was sich für mich erfüllt, ist eine unmittelbar selbst genossene Wonne und hat eine hedonistische Färbung. Was sich durch mich erfüllt, kann zwar ebenfalls meiner Seele guttun: meine Selbstachtung steigern, mir Anerkennung und Sympathie einbringen. Und dies sowohl in der Rückschau, wenn die „Lebe-wie-du-wenn-du-Regel“ (in Langform: „Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst, gelebt zu haben!“) aktuell wird, als auch schon in der Gegenwart des Tuns und Wirkens und der Erfahrung von positiver Resonanz. Aber die Färbung ist hier weniger hedonistisch als vielmehr eudaimonistisch. Heißt, es geht bei der Sinnerfüllung darum, einen Beitrag zu leisten für ein gelingendes Zusammenleben hier auf Erden, moralischen und ethischen Grundsätzen folgend, auch wenn es mir etwas abverlangt und meinem persönlichen Lustempfinden zuweilen hammerhart zuwiderläuft. Dann macht es vielleicht keinen Spaß, aber es macht Sinn.

Diese verschiedenen Färbungen sind es dann auch, die die angesprochene schwierige Beziehung der Wunsch- und der Sinnerfüllung begründen. Konkret: Sie sorgen dafür, dass die beiden Anteile unserer Persönlichkeit, die sie repräsentieren, sich immer wieder in die Haare geraten können. In meinem Modell des Inneren Teams könnte man diese Anteile „die Selbstbedachte“ (Wunscherfüllung) und „die Gewissenhafte“ (Sinnerfüllung) nennen. Im Folgenden spreche ich – um im Duktus des Modells zu bleiben – einfach von Alpha und Beta. Alpha ist die Stimme, die sagt: „Ich möchte gerne …“ Beta die, die sagt: „Ich sollte …“ Klingt vielleicht profan, tatsächlich geht es dabei aber um nichts weniger als eines der großen menschlichen Dilemmata, die wir alle in uns tragen, da sie unserer Natur entspringen: der ewige Konflikt zwischen Wollen und (innerem) Sollen.

Ein Beispiel: Angenommen mein Freund neigt zum Glücksspiel, hat sich dadurch in eine arge finanzielle Klemme gebracht und bittet mich, ihm auszuhelfen. Alpha sagt: „Nein, das Geld habe ich mir hart erarbeitet und kann es wahrlich gut selbst gebrauchen.“ Beta hält dagegen: „Das ist dein Freund, und wahre Freundschaft zeigt sich in der Not. Ist es nicht geradezu wunderbar, dass du über die Möglichkeit verfügst, ihm herauszuhelfen?“ Intuitiv und impulsiv neigen wir in solchen Situationen dazu, auf eine der beiden Stimmen zu hören und die andere zu ignorieren – und treffen so Entscheidungen, mit denen wir nur teilweise zufrieden sind und manchmal noch lange hadern.

Mehr zum Thema

Friedemann Schulz von Thun: Erfülltes Leben – Ein kleines Modell für eine große Idee.

Hanser 2021, 20 Euro.

Was macht ein erfülltes Leben aus? Friedemann Schulz von Thun beleuchtet diese Frage aus fünf verschiedenen Perspektiven, die er in seinem „5-Felder-Modell eines erfüllten Lebens“ zusammengeführt hat. Dabei nutzt er nicht nur viele seiner älteren Modelle wie das des Inneren Teams, für die er berühmt geworden ist. Sondern blickt auch immer wieder auf sein eigenes Leben zurück und verdeutlicht seine Ausführungen anhand persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse.

Friedemann Schulz von Thun: mS-Serie – Erfülltes Leben

msmagazin.info/ErfuelltesLeben

Im Rahmen dieser Serie stellt Friedemann Schulz von Thun die fünf von ihm definierten Formen der Lebenserfüllung vor. Bisher erschienen: Teil 1 – „Widersprüchliche Wunscherfüllung“. Darin schildert der Kommunikationsforscher, wie wir unseren verborgenen Wünschen auf die Spur kommen können, und warum sie uns nicht nur zum Glück, sondern auch in große Unzufriedenheit führen können.

Sarah Lambers: Sinnfragen in Unternehmen – Das Purpose-Dilemma.

managerseminare.de/MS309AR01

Ein wesentlicher Faktor für die Sinnerfüllung ist für viele Menschen die Bedeutung ihrer Arbeit: Zahle ich mit meinem Tun auf einen größeren Sinn ein? Diese Frage lässt sich umso leichter beantworten, je klarer das eigene Unternehmen seinen Purpose definiert hat, also einen Zweck, der auch soziale und ökologische Ziele umfasst. Doch können Unternehmen überhaupt ernsthaft sowohl diese als auch ökonomische Ziele verfolgen? Gehen Purpose und Profit überhaupt zusammen? 

Alpha ist keine Ego-Zicke und Beta kein Moralapostel

Besser ist es in solchen Alpha-Beta-Konflikten, erst einmal innezuhalten und sich eines bewusst zu machen: Beide Stimmen bekommen einen großen Zipfel meiner inneren Wahrheit zu fassen, sie sind beide nicht dumm und wollen beide mein Bestes. Deshalb sollten wir nicht die eine Stimme zum Engel und die andere zum Teufel machen. Alpha ist keine Ego-Zicke und Beta kein Moralapostel. Beide sind ehrenwerte Mitglieder unserer inneren Gesellschaft, beide verdienen es, gehört zu werden. Am besten ist es daher, mit beiden in einen Diskurs zu treten (im Coaching gerne als innere „Auseinander-Setzung“ auf zwei Stühlen).

Zwar ist dieser Dialog erst einmal anstrengender, als sogleich der erstbesten Stimme zu folgen, die spontan nach vorne drängt. Erst mal langsamer, vielleicht auch quälender, weil er sich dem inneren Konflikt aussetzt. Aber dann tritt sein Vorteil zutage: Er befreit uns von dem Druck des Entweder-oder, des Ja-oder-nein. Stattdessen eröffnet er den Möglichkeitsraum für Lösungen, die sowohl Alpha als auch Beta unterschreiben und mittragen können („Wenn zwei Gegner sich verbünden, ist da Synergie zu finden!“) – integrale Lösungen, die beide Seiten meiner inneren Wahrheit zu einer gemeinsamen Entscheidung vereinigen. Mögliche Lösungen im Beispielsfall: „Ich leihe dir das Geld gerne, aber nur unter einer Bedingung: Du machst eine Spielsucht-Therapie.“ Oder: „Nein, ich gebe dir kein Geld. Ich denke, ich würde es damit in ein Fass ohne Boden stecken. Aber ich stehe dir bei und biete dir an, dich zu einer Schuldnerberatungsstelle zu begleiten und mit dir daran zu arbeiten, deine Verhältnisse in Ordnung zu bringen.“

Der Mensch ist auch seinem eigenen Gelingen verpflichtet

Betrachtet man die Alpha-Beta-Beziehung nicht nur im Kontext einer speziellen Situation, sondern im Lichte unseres gesamten Lebens, ergibt sich ein existenzielles Wertequadrat im Spannungsfeld dieser beiden Typen der Erfüllung (siehe Grafik „Ethisches Balance-Quadrat). Dieses veranschaulicht auch mein Credo, das ich im Coaching stets im Hinterkopf habe: Der Mensch steht in der doppelten Dienstpflicht: zum Gelingen des Ganzen beizutragen, von dem er ein Teil ist, und zum Gelingen des Ganzen beizutragen, das er selbst ist.

Ethisches Balance-Quadrat

Quelle: managerseminare.de; Friedemann Schulz von Thun: Erfülltes Leben, Hanser 2021

Der Mensch ist selbst ein Ganzes? Jawohl, ein Wesen, das auch um seiner selbst willen lebt und ein Leben erstreben darf, in dem es aufblüht, sich ganzheitlich entfaltet und die Freuden und die Schönheit des Daseins genießt, das seinen „Pursuit of Happiness“ wahrnimmt, soweit immer möglich und vertretbar. Und wer hat dafür Sorge zu tragen, dass es mir gut geht und dass ich aufblühen kann? Die allererste Zuständigkeit liegt bei mir selbst, jedenfalls sobald ich erwachsen bin. Das ist meine Alpha-Dienstpflicht. Die Kunst besteht nun darin, sie mit meiner Beta-Dienstpflicht in Ausgleich und Balance zu bringen. Denn ein (starkes) Ungleichgewicht führt zwangsweise in eine beklagenswerte innere Verfassung.

Der Mensch steht in der doppelten Dienstpflicht: zum Gelingen des Ganzen beizutragen, von dem er ein Teil ist, und zum Gelingen des Ganzen beizutragen, das er selbst ist. Denn ja, der Mensch ist auch selbst ein Ganzes. Ein Wesen, das auch um seiner selbst willen lebt und ein Leben erstreben darf, in dem es aufblüht, sich ganzheitlich entfaltet und die Freuden und die Schönheit des Daseins genießt.

Ein zu starker Fokus auf Alpha oder Beta führt in den Abgrund

Wer sein Leben überwiegend oder ausschließlich unter dem Leitstern von Alpha führt, läuft Gefahr, im Wertequadrat nach links unten abzurutschen, in die Egozentrik und Selbstsucht – das eigene Wohlbefinden wird hier in narzisstischer Selbstherrlichkeit absolut gesetzt. Auf der Beta-Seite entsteht dabei ein, wie Viktor Frankl es formuliert, existenzielles Vakuum, dessen Sog einen seelischen Teufelskreis in Gang setzt: Je ratloser ich bin, was den Sinn meiner Existenz betrifft, umso mehr hedonistische Ablenkung (Konsum, Risk und Fun, Prestige, Schokolade …) benötige ich, und je mehr ich meine Lebensenergie auf diese Surrogate ausrichte, umso ratloser und frustrierter werde ich auf der tieferen Ebene des existenziellen Sinnempfindens. Ein Mensch, der in diesem Teufelskreis feststeckt, braucht – etwa im Rahmen eines Coachings – dringend eine Ermutigung, dienstbar zu werden für etwas, was nicht er selbst ist – nicht (nur) aus moralischen Gründen, sondern eben auch und vor allem um seiner Selbstachtung und Selbstzufriedenheit willen.

Und wer wiederum sein Leben (nur) nach dem Leitstern von Beta ausrichtet, läuft in die Gegengefahr, die Selbstfürsorge zu vernachlässigen und sich nicht starkzumachen für das eigene Aufblühen und Wohlergehen. Im Extrem spürt er sich selbst kaum noch und opfert sich überengagiert für vermeintlich höhere Zwecke auf. Diese Gefahr besteht besonders dann, wenn Hingabe und das innere Sollen, das Pflichtgefühl, sich nicht aus eigener Entscheidung und selbstbestimmtem Lebenskompass ergeben, sondern von alten Einschärfungen oktroyiert sind („Reiß dich zusammen, um dich geht es hier nicht!“). Die Psychoanalyse spricht von Introjekten, die von außen stammen, als Fremdkörper in der Seele antreibend den Ton angeben und einen lebenslangen inneren Widerhall erzeugen. In solchen Fällen ist im Coaching oder gegebenenfalls im Rahmen einer Therapie viel Arbeit zu leisten: Welche Besatzungsmächte sind in mir wirksam wie eine graue Eminenz, ohne dass ich sie wirklich geprüft und bestätigt, verwandelt oder verworfen hätte? Und daran anknüpfend: Wie kann ich lernen, meine eigenen Bedürfnisse und Sehnsüchte (wieder) zu spüren, innerlich gelten zu lassen und nach außen kraftvoll zu vertreten?

Gelingt es hingegen, Alpha und Beta in Ausgleich zu bringen, entsteht ein seelisch-sozialer Engelskreis. In dem Maß, wie ich es schaffe, es mir gut gehen zu lassen, in dem Maß habe ich die Kraft, meine Stärken, Talente und Fähigkeiten einzusetzen, um Türen für andere Menschen aufzuschließen und so zu einem dienstbaren Instrument einer gelingenden Koexistenz zu werden. Und in dem Maße – umgekehrt –, wie ich dienstbar und wirksam werde, in dem Maße fühle ich mich gestärkt, gebraucht und sinnerfüllt.

In dem Maß, wie ich es schaffe, es mir gut gehen zu lassen, in dem Maß habe ich die Kraft, meine Stärken, Talente und Fähigkeiten einzusetzen, um Türen für andere Menschen aufzuschließen und so zu einem dienstbaren Instrument einer gelingenden Koexistenz zu werden.

Alpha und Beta verschmelzen zu einem glückhaften „Alphabet“

Ein besonderes Glück entsteht, wenn das, was mir durch den Ruf des Lebens abverlangt wird, das, wozu „meine Ganzheiten“ mich verpflichten, mit dem übereinstimmt, was ich zu geben fähig bin und was mir Freude bereitet. Wenn mein Bedürfnis und meine Berufung zusammenfallen, wenn mein sinnstiftendes Dasein zutiefst von meinem Wesen und den darin enthaltenen Wünschen und meinem Wollen geprägt ist. Dann verschmelzen Alpha und Beta zu einem glückhaften „Alphabet“. Ein extremes Beispiel dafür wäre ein begnadeter Musiker, dem seine Musik ein tiefes Herzensanliegen ist, der davon beseelt ist und der damit viele Menschen erreicht, erfreut, berührt, vielleicht Jahrhunderte über sein Erdenleben hinaus.

Diese Harmonie von Können, Freude haben und Sinnstiftung wird auch in einem kleinen und eleganten Modell aus Japan ins Auge gefasst, dem „Ikigai“. Dieses liefert eine wunderbare Orientierung für die Bewertung des eigenen Jobs. Du bist in „deinem Ikigai“, wenn deine Tätigkeit, deine Arbeit vier Merkmale aufweist. Drei davon habe ich soeben genannt: Du kannst es gut, es macht dir Spaß, es macht Sinn – und jetzt viertens: Es ist hinreichend einträglich, du verdienst damit genug, um gut leben zu können. Welche dieser vier Komponenten sind erfüllt und wollen gewürdigt sein – und in Hinblick auf welche Komponente(n) hapert es? Vielleicht kann ich etwas gut und verdiene mein gutes Geld damit – aber es macht mir wenig Freude, und ich zweifle daran, ob das Produkt, an dessen Herstellung ich beteiligt bin, für die Welt einen Sinn macht. Leuchten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, doch einmal Ihren Job mithilfe des Ikigai aus (siehe Grafik „Ikigai-Modell“)!

Was in diesem Modell allerdings nicht berücksichtigt ist: Es kann überaus erfüllend sein, eine Herausforderung anzunehmen, die mir von Haus aus schwerfällt, wo weder Kompetenz vorhanden ist noch Freude aufkommt, die aber meine persönliche Entwicklung befördert. Meine Entscheidung als junger Mann, Psychologe zu werden, war gewiss nicht von der Vermutung getragen, hier ein besonderes Talent zu haben. Und noch etwas bleibt im Ikigai unbedacht: die Qualität des Miteinanders im Team! Ob ich in meiner Arbeit aufblühen kann, hängt entscheidend davon ab, ob unter uns ein Geist von Wertschätzung, Empathie und Unterstützung herrscht, eine Harmonie höherer Ordnung, bei der Unterschiede prinzipiell willkommen sind.

Ikigai-Modell

Quelle: managerseminare.de; nach Friedemann Schulz von Thun: Erfülltes Leben, Hanser 2021

Wofür würde ich mir selbst einen kleinen Orden verleihen?

Neue Einsichten werden möglich, wenn Sie sich die Zeit nehmen, Ihr Leben in Hinblick auf Erfüllung vom Typus Beta auszuleuchten. Wofür würden Sie sich selbst einen kleinen Orden verleihen? Wo ist Ihr Tun und Wirken von Sinn und Segen, wo stellt sich kritisch die Sinnfrage? Wofür und in welcher Hinsicht könnten Sie sich mehr engagieren als bis jetzt? Hier kann eine Gliederung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hilfreich sein. Was habe ich in der Vergangenheit geleistet, das vielleicht keinen Spaß gemacht hat, dafür aber Sinn? Was hat Sinn gemacht und große Freude zugleich? Wo habe ich eine gute Spur hinterlassen? Jedes Ich verdient einen Orden, wenn es zu einem guten Wir beiträgt. Wofür engagiere ich mich derzeit und trage zum Gelingen von etwas bei, was nicht nur ich selbst bin?

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Der Sinn unserer Existenz kann auch darin bestehen, auf der Lebensbühne eines anderen Menschen irgendwann einmal, vielleicht nur in einem einzigen begnadeten Moment, eine förderliche Rolle gespielt und zum Gelingen seines Lebens beigetragen zu haben – vielleicht schon als Kind. Vielleicht bin ich schon älter und kann etwas vorweisen, was man etwas pompös eine „Lebensleistung“ nennt? Ich selbst habe für mein „Lebenswerk“ wiederholt enorme Würdigung erfahren. Die für mich größte Sensation war die völlig unverhoffte Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität St. Gallen.

Was die Sinnerfüllung vom Typus Beta angeht, empfinde ich mich in der Rückschau als privilegiert, auch wenn ich mich in mancher Hinsicht, zum Beispiel was politisches Engagement angeht, als rückständig und entwicklungsbedürftig empfinde. Und Lorbeer verwelkt über Nacht, wie das Sprichwort lehrt: Sinnerfüllung speist sich nur wenig aus den Meriten der Vergangenheit. Sie speist sich vielmehr aus den Brötchen, die täglich frisch gebacken werden. Wie kann ich heute, morgen und übermorgen dienstbar werden für ein gelingendes Leben in meinem Umkreis – und dabei mein eigenes Wohlergehen nicht ganz vergessen?

So viel für heute, den Typus Beta betreffend. Der Merkvers lautet: „Wie schön, dass ich geboren bin, es macht womöglich einen Sinn!“ Um eine ganz andere Art von Erfüllung geht es dann beim nächsten Mal …

Der Autor: Dr. Friedemann Schulz von Thun war bis 2009 Professor für Psychologie an der Universität Hamburg. Er gehört zum Leitungsteam des Schulz von Thun Instituts für Kommunikation und arbeitet seit 50 Jahren als Berater und Trainer. Seine Bücher gehören zu den meistgelesenen Werken der angewandten Kommunikationpsychologie. 2009 wurde er für sein Lebenswerk mit dem Life Achievement Award der Weiterbildungsbranche ausgezeichnet, 2011 mit dem Ehrendoktor der Universität St. Gallen. Kontakt: schulz-von-thun.de

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