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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Daniel Konrad aus managerSeminare 319, Oktober 2024
Es war eine Reise voller Hoffnungen und Träume, die schließlich in Enttäuschung endete: In einer kleinen Gruppe war mein Freund in die schottischen Highlands nach Inverness gereist, besser bekannt unter dem Namen Loch Ness. Die ersten Tage waren geprägt von unzähligen Bootsfahrten und Wanderungen entlang der Küste. Die Gruppe ließ sich von den Geschichten der Einheimischen inspirieren, die voller Überzeugung von Sichtungen und mysteriösen Ereignissen rund um „Nessie“, das sagenhafte Ungeheuer von Loch Ness, berichteten. Jede Nacht versammelte man sich am Lagerfeuer, um Pläne für den nächsten Tag zu schmieden und Geschichten über frühere Begegnungen mit dem Ungeheuer zu hören. Doch die Tage vergingen, und die Geduld der Reisegruppe wurde auf eine harte Probe gestellt. Trotz aller Bemühungen blieben die Sichtungen aus. Die Gruppe verbrachte Stunden damit, den See mit Ferngläsern abzusuchen, nutzte Unterwasserkameras und wartete geduldig, doch Nessie ließ sich nicht blicken.
Diese Geschichte erinnert mich an meine Arbeit als Agile Coach und Organisationsberater. Denn nicht nur im Loch Ness liegt die Wahrheit irgendwo im Nirgendwo. Ähnlich verhält es sich mit der sagenumwobenen Unternehmenskultur. Für die einen ist sie der sprichwörtliche an die Wand genagelte Pudding. Die anderen sehen in ihr ein Frühstücksmonster, dessen Leibspeise Strategien sind. Der Begriff der Kultur ist geradezu mythisch aufgeladen. Zahlreiche Experten haben versucht, Unternehmenskultur theoretisch zu erfassen und zu messen. John Kotter zum Beispiel, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Organisationskultur und des Changemanagements, definiert, dass „Kultur […] Verhaltensnormen und gemeinsame Werte unter den Mitgliedern einer Organisation [umfasst]. Diese Normen und Werte haben nicht nur tiefgreifenden Einfluss auf das Verhalten innerhalb der Organisation, sondern auch auf die Interaktionen mit externen Stakeholdern“. Der Organisationspsychologe Edgar Schein wiederum schreibt: „Unternehmenskultur ist ein Muster grundlegender Annahmen, die von einer Gruppe erfunden, entdeckt oder entwickelt wurden, um mit ihren externen Anpassungs- und internen Integrationsproblemen umzugehen. Diese Muster haben sich als hinreichend erfolgreich erwiesen, um als gültig betrachtet und daher neuen Mitgliedern als die korrekte Art des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens in Bezug auf diese Probleme gelehrt zu werden.“ An beiden Definitionen wird die Komplexität des Themas deutlich. Von Werten, Normen, grundlegenden Annahmen und der Interaktion verschiedener Stakeholder ist die Rede. So bleibt ein vager Eindruck von einem schwer fassbaren Etwas, das Unternehmen prägt.
Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Kultur lese ich oft, dass die Unternehmenskultur nicht entscheidbar sei. Will heißen: Sie ist nicht steuerbar, nicht direkt zu beeinflussen, sondern sie entwickelt sich emergent. Auch wenn diese Aussage formal korrekt ist, mir ist sie zu einfach. Denn wenn ich bei meinen Kunden eine neue Software oder ein neues IT-System einführe, verändern sich in der Folge Prozesse, Arbeitsweisen – sowie oftmals auch Rollen und Organisationsstrukturen. Dabei verändert sich auch die Kultur – ob vom Kunden beabsichtigt oder nicht. Hier zeigen sich also neben technischen häufig organisatorisch-kulturelle Hürden. An dieser Stelle dürfen wir nicht stehen bleiben. Wir sollten nicht konstatieren, dass Kultur eben nicht entscheidbar sei, und letztlich vor der Kultur kapitulieren. Was wir aus meiner Sicht stattdessen tun sollten: Wir sollten uns in der praktischen Changearbeit mit Unternehmen vom Begriff der Unternehmenskultur komplett verabschieden. Denn er bringt uns nicht weiter, schon deswegen nicht, weil es das ohnehin selten gibt – die eine, die einheitliche Unternehmenskultur.
Auf der Suche nach dem analytischen Wert des Begriffs Unternehmenskultur lande ich in der Realität von Unternehmen. Diese bestehen aus einer Vielzahl von heterogenen Gruppen, die in verschiedenen Abteilungen, Bereichen und Teams arbeiten, mitunter sogar über den gesamten Globus verteilt sind. Was sie verbindet, ist die Vielfalt ihrer persönlichen Hintergründe, Werte und Arbeitsstile. Von einer einheitlichen Kultur kann keine Rede sein, im Gegenteil: In den Abteilungen der Unternehmen wie Marketing, IT und Buchhaltung sind die Herausforderungen und Dynamiken sehr verschieden. Der Druck durch (disruptive) externe Veränderungen wirkt auf diese Abteilungen in unterschiedlicher Intensität . Als Reaktion darauf entwickeln sich in den verschiedenen Teams oder Abteilungen eines Unternehmens teilweise recht unterschiedliche „Subkulturen“. Schon deswegen bringen auch organisationsweite Kulturanalysen und Kulturwandelprojekte nicht viel – abgesehen davon, dass sie die tatsächlichen Knackpunkte, an denen ein Changevorhaben im Alltag scheitert, oft gar nicht zu fassen bekommen.
Hier fällt mir ein Unternehmen ein, das ich vor Jahren begleitet habe. Es befand sich mitten in einem Transformationsvorhaben. Dabei legte der Vorstand großen Wert auf die Vermessung und Erfassung der Unternehmenskultur. Es erfolgten zahlreiche Maßnahmen wie Employee Surveys, Pulse Checks und Net Promoter Score (NPS). Die Ergebnisse der Kulturanalyse fielen sehr positiv aus – was sich nicht mit meinem Einblick in diverse Arbeitskontexte deckte. Ich erlebte dort festgefahrene Strukturen mit silohaften Abteilungen und eine fehlende Feedbackkultur. Und zahlreiche Gespräche mit Mitarbeitenden offenbarten, dass dies viele in der Firma durchaus schmerzte. Die gleichwohl positive Bewertung der Kultur rührte eher daher, dass die traditionellen Strukturen mit Stabilität und Sicherheit assoziiert wurden und dass man sich damit – angesichts aktueller weltpolitischer Unsicherheiten und eines unsicheren Arbeitsmarktes – nur zu gern arrangiert hatte. Eine wichtige Komponente waren zudem starke soziale Bindungen am Arbeitsplatz und ein gutes Verhältnis zu Kollegen. Manche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gingen auch davon aus, dass sie im Falle positiver Bewertungen der Kultur von ihren Führungskräften mit dem Thema nicht weiter behelligt werden würden. Die so entstandene Melange bildete den Treibstoff für ein „Weiter so“ im Unternehmen. Diese Problematik wurde durch die Nutzung der Ergebnisse als positiver Faktor in der Außendarstellung zusätzlich verstärkt. Ein gutes Beispiel dafür, in welche analytischen Fallen die Beschäftigung mit „der Kultur“ führen kann, finde ich.
Statt von der Unternehmenskultur zu sprechen, sie ermitteln und verändern zu wollen, ist es aus meiner Sicht daher weitaus besser, sich im konkreten Einzelfall anzuschauen, welche verschiedenen Einflussfaktoren und Abhängigkeiten es in Bezug auf ein Thema (etwa die Einführung einer neuen Software) in der Organisation oder in einem Team gibt, diese konkret, sichtbar und besprechbar zu machen, um sie im nächsten Schritt verändern zu können. Der Fokus sollte also auf Interventionen liegen, die eine positive Hebelwirkung zur Lösung unternehmerischer Probleme und damit zur steigenden Wertschöpfung im Unternehmen darstellen.
Transformationen und Veränderungsvorhaben sind Marathons. Bei diesen anstrengenden Unterfangen empfehle ich, sich nicht auf den Irrweg einer Suche nach „Nessie“, dem großen undurchdringlichen Etwas, zu begeben. Stattdessen ist die Kunst dabei, den Blick vom sagenumwobenen Thema Unternehmenskultur ab- und konkreten unternehmensrelevanten Problemen (einschließlich der damit verbundenen menschlichen Faktoren) zuzuwenden. Wer sich dann auf die kleinen, wirkungsvollen Schritte der täglichen Veränderungsarbeit konzentriert, der muss nicht vor der „nicht entscheidbaren“ Unternehmenskultur kapitulieren.
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