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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Horst Lempart aus Training aktuell 04/23, April 2023
Den Markenkern einer Person herausarbeiten, authentisches Führen ermöglichen, Persönlichkeit zeigen – Authentizität als Wert begegnet mir in auffallend vielen Coachingprozessen. Und nicht nur das: Auch wir Coachs nutzen Unverfälschtheit als Tool, weil unsere Coachees gerade diesen Typ Begleiter möchten. Und so sind wir, wie wir sind – ungefiltert, pur, einfach authentisch.
Authentizität wird gesellschaftlich sehr geschätzt. Frei zu sein, sich an niemandem ausrichten zu müssen, alles „rauszulassen“ – das ist sehr en vogue. Es passt in unsere Zeit des Individualismus. Jede/r soll zum Ausdruck bringen können, was in ihm oder ihr steckt. Wer das für sich in Anspruch nimmt, betont seine Unabhängigkeit: „Schaut, ich habe es nicht nötig, mich zu verbiegen.“ Dass diese Authentizität jedoch auch ihren Preis hat, bleibt oft unerwähnt. Das ungefilterte „Raushauen“, die Echtheit, die wir anderen zumuten, kann zu erheblichen sozialen Kosten führen.
Wir leben nun mal in einer Welt, in der die eigene Freiheit auch die Freiheit der anderen ist – oder: in der die eigene Authentizität mit vielen anderen korrespondieren muss. Authentizität orientiert sich daher sinnvollerweise auch an Rollenerwartungen, persönlichen Zielen und gesellschaftlichen Werten – kurz: ist sozialverträglich. Möglicherweise geht es in vielen Gesprächen über das „wahre Ich“ auch weniger um authentisches Auftreten als um selbstbestimmtes Handeln, um die Legitimierung des eigenen Verhaltens mithilfe eines „So bin ich halt“.
Dabei hat „Ich bin, wie ich bin“ etwas Schicksalhaftes – und ist der Totschläger in allen Veränderungsprozessen, der auch in Coaching und Beratung bremsend bis blockierend wirkt. Es handelt sich um eine Authentizität, die von der Verantwortung entbindet, andere Seiten oder blinde Flecken an sich selbst zu entdecken, die aber möglicherweise ebenso authentisch sind. Oder sind die bisher weniger ausgelebten Persönlichkeitsanteile weniger wahr?
Aufgabe im Coaching ist es, den Coachee nicht „echter“, sondern vollständiger zu machen – in all seiner Vielfalt. Dazu gehört auch, ihn mit seinen blinden Flecken zu konfrontieren. „Ver-rückt“ zu sein, aus dem traditionellen Ich und auch mal aus der Spur zu fallen, Gewohnheiten durch neue Abläufe zu ersetzen, Experimente zu wagen – all das kann uns aus dem angestaubten „So bin ich“ herauslocken. Wer sich und seinen Klientinnen und Klienten ein solches Maß an Wechselhaftigkeit erlaubt, wird bald feststellen: Es befreit ungemein.
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