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Zukunft Personal Europe 2024
Zukunft Personal Europe 2024

Über große und kleine Erschöpfungen

Anfang September traf sich die HR-Branche in Köln und bescherte der „Zukunft Personal Europe“ einen neuen Besucherrekord. Krisenstimmung herrschte indes in der Eröffnung – die Messe adressierte die Multikrisen und rief die „Ära der großen Erschöpfung“ aus. Mit dabei unter den Diskutanten: Jutta Rump. Im Interview beleuchtet die Professorin die Gründe für mehr oder weniger große Erschöpfungen.

Auf dem Eröffnungspanel der Zukunft Personal Europe haben Sie mit anderen Experten und Expertinnen über die „Große Erschöpfung“ diskutiert. Woran machen Sie die fest?

Jutta Rump: Zur Vorbereitung auf die Diskussion habe ich mir Fotos angeguckt von Menschen, die arbeiten oder gearbeitet haben. In den 50er, 60er, 70er, 80er und 90er Jahren, und da habe ich auch in Gesichter geguckt, die durch Erschöpfung gekennzeichnet waren. Neu ist das Thema Erschöpfung also nicht. Aber wir erleben aktuell große Veränderungsströme, die alle zur gleichen Zeit kommen: die Digitalisierung, den Klimawandel und die Nachhaltigkeitsdebatte, den Strukturwandel, technologische Themen, dazu Konjunkturkrisen, geopolitische Krisen, eine neue Definition von Globalisierung, die demografische Entwicklung – eine Fülle von Veränderungen, und die eben mit einer hohen Geschwindigkeit. Und das ist anders im Vergleich zu früher: dass wir das alles in Echtzeit erleben, über alles informiert sind, alles hautnah mitbekommen. Und das führt zu diesem Erschöpfungszustand. Anders formuliert: Das Gefühl, mal innehalten, mal verschnaufen zu können, ist nicht mehr so gegeben.

Ist das belegt durch Zahlen?

Wir können es an den Fehlzeiten und Krankenständen festmachen. Wir sehen deutlich, dass in den vergangen zwei bis drei Jahren die Krankenstände nach oben gegangen sind und wir mittlerweile Fehlzeiten haben, die zweistellig sind. Früher waren hohe Fehlzeiten ein Indikator für ein schlecht geführtes Unternehmen. Das sind sie jetzt nicht mehr unbedingt. Und die hohen Zahlen fallen auch deswegen besonders auf, weil wir während der Pandemie vor vier Jahren historisch niedrige Krankenstände hatten. Da gab es Branchen, die hatten eine Eins vor dem Komma.

Und woran liegt das, dass die Krankenstände gerade in der Pandemie niedrig waren? Abgesehen von den Corona-Erkrankten?

Das Phänomen ist bekannt, es handelt sich um die Survivor Sickness. Die besagt, dass nach größeren Veränderungs- und Transformationsprozessen – und die haben wir mit der Pandemie erlebt und in der Kombination mit den vielen anderen Veränderungsprozessen – die Krankenstände und Fehlzeiten deutlich ansteigend sind, während sie während der Krise genau das Gegenteil darstellen. Direkt in der großen Krisenphase – in der Pandemie – sind die Menschen zusammengerückt, dann denkt man sich „Das schaffen wir. Wir müssen uns einsetzen, wir gehen da durch“. Und manche haben auch Sorge, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das führt dazu, dass die Leute präsent sind. Wenn sich dann aber das Licht am Ende des Tunnels zeigt, dann verschwindet die Anspannung, die Menschen werden tatsächlich krank. Oder eben haben das Gefühl, sich jetzt Zeit fürs Verschnaufen nehmen zu können.

Zukunft Personal Europe 2024

Unter dem Motto „People change things“ lockte die Messe Zukunft Personal Europe Anfang September 25.220 Besucher nach Köln. Damit erzielte sie einen neuen Besucherrekord. Vor Ort waren über 600 Aussteller und Partner, auf 25 Stages wurden 785 Sessions abgehalten. 2025 findet die Messe vom 9. bis 11. September statt. Infos unter zukunft-personal.com/de/expo-events/zp-europe/

Hört die Survivor Sickness denn überhaupt noch auf? Wenn wir an die Polykrisen denken ...? Wo ist das Licht am Ende des Tunnels?

Wenn Veränderung zum Normalzustand wird, dann kommen Menschen in der Tat nicht mehr runter. Unternehmen sollten sich daher überlegen, wie sie sich aufstellen, um ein Gegengewicht zu der permanenten Veränderung zu schaffen. Denn auch das ist wahr: Wir erleben wieder einmal eine Verdichtung von Arbeit, eine hohe Belastung, die sich dann auch psychisch niederschlägt.

Sehen Sie Unterschiede im Erleben der derzeitigen Situation zwischen Führungskräften und Nicht-Führungskräften?

Meines Wissens gibt es keine gesonderte Statistik zu den Fehlzeiten von Führungskräften. Ich vermute aber, dass die Fehlzeiten von Führungskräften niedriger sind als die der Mitarbeitenden. Und das liegt unter anderem in der Rolle von Führungskräften begründet. Sie sind diejenigen, die in Krisenzeiten Entscheidungen treffen, die in einer Situation, in der sich viel verändert, entscheiden, wie sich was verändert. Mit anderen Worten: Sie sind nicht die Schachfiguren auf dem Schachbrett, die hin- und hergeschoben werden, sondern sie sind die Personengruppe, die die Schachfiguren hin- und herschieben. Das ist vielleicht brutal ausgedrückt und gehört sicherlich nicht in dieser Formulierung zum Mainstream von partizipativer Führung. Aber in der Tat haben Führungskräfte ein größeres Maß an Selbstbestimmtheit und sind – in Anführungszeichen gesprochen – nicht die Opfer. Und das führt dazu, dass sie Stress anders wahrnehmen.

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Was lässt sich daraus ableiten für die anderen Mitarbeitenden, für die Kultur und für die Gestaltung von Arbeit?

Durchaus einiges. Mein erster Punkt: Stärkenorientierung. Wenn Menschen nach ihren Stärken und Talenten eingesetzt sind, dann nehmen sie Stress anders wahr. Darüber muss man also nachdenken. Mein zweiter Rat geht in Richtung Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Das meint mehr als die Vereinbarkeit mit der Familie, sondern mit dem gesamten Privatleben. Lebensphasenorientierung nenne ich es. Das Dritte ist das Thema Zeit: Zeitsouveränität, Flexibilisierung von Zeit, Selbstbestimmtheit von Zeit. Zeit ist inzwischen eine zweite Währung. Ein weiterer Punkt ist das mobile Arbeiten, wo es möglich ist – also das Homeoffice, was einige Unternehmen gerade wieder komplett abschaffen wollen. Viele Menschen wollen aber gerne von zu Hause aus arbeiten. Denn damit fällt die Pendelei weg, ein Stressor für viele, damit lässt sich auch das Familienleben besser koordinieren, und man fühlt ein höheres Maß an Selbstbestimmtheit in der Art und Weise, wie man den Tag gestalten kann. Und der fünfte Faktor ist das Thema Gesundheitsförderung bzw. Gesundheitsmanagement.

Hat das Thema Fehlzeiten auch mit der Arbeitsmarktsituation zu tun?

Auch ja. Wir haben einen Arbeitnehmendenmarkt, die Demografie treibt die Macht der Arbeitnehmenden weiter an, weswegen Mitarbeitende weniger Konsequenzen fürchten, wenn sie auch wegen leichterer Erkrankungen zu Hause bleiben. Präsentismus gibt es vor allem in Arbeitgebermärkten, wenn Menschen Angst haben, austauschbar zu sein. Dazu kommt das Mindset der Pandemie: Wir haben gelernt, bei dem kleinsten Anzeichen einer Erkältung zu Hause zu bleiben. Und Krankschreibungen gibt es ja heute auch viel einfacher. Wegen des Arbeitnehmendenmarktes gehen viele Unternehmen nicht konsequent mit übermäßigem Krankfeiern um. Sie tolerieren die Fehlzeiten, um die Mitarbeitenden nicht zu verlieren. Die Fehlzeiten sind also eine Mischung aus allem: aus Surviver Sickness, heftige Anspannung und Überforderung, Endlosspirale der Veränderung, verändertem Verhalten bei leichten Erkrankungen und der Macht des Arbeitnehmermarktes.

Das Interview führte Nicole Bußmann

Die Interviewte: Prof. Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Darüber hinaus ist sie Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen (IBE). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Trends in der Arbeitswelt und die Konsequenzen für Personalmanagement, Organisationsentwicklung sowie Führung.
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