Kapitalismus als ein eigenes Glaubenssystem zu beschreiben, mag auf den ersten Blick als unbillige Übertragung erscheinen. Nicht für Walter Benjamin. In seinem berühmten Fragment 'Kapitalismus als Religion' von 1921 analysiert der kritische Philosoph, im Kapitalismus sei deshalb 'eine Religion zu erblicken', weil er 'essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen' dient, auf die ehemals 'die sogenannten Religionen Antwort gaben'. Für Benjamin ist der Kapitalismus ein System von Schuld und Schulden, das hochritualisiert ist wie eine kirchliche Organisation und wie sie Erlösung verspricht – wenn auch mit einem entscheidenden Unterschied.
Die Verbindung von Kapitalismus und Glauben ist durchaus nicht an den Haaren herbeigezogen. Schon Max Weber hat die Entstehung des Kapitalismus aus der gnadenerheischenden Arbeitsmoral der Calvinisten hergeleitet. Kaum jemand weiß noch, dass die christliche Religion selbst als eine Art Wirtschaftslehre angefangen hat: als oeconomia divina – die Ökonomie Gottes, auch Vorsehung oder Heilsplan genannt. Gott betreibt seine Schöpfung in dieser Vorstellung als Hausvater, als Vorstand und Herrscher der 'grossen Haushaltung des Universums', wie Novalis es um 1800 noch nennen konnte.
Die theologische Ökonomie hat freilich nichts mit der modernen Marktwirtschaft zu tun, sie ist vielmehr als große Schöpfungsordnung zu verstehen. Der Unterschied liegt in der Zielrichtung: Das Leben und Wirtschaften der Christen war auf Erlösung im Jenseits ausgerichtet. Die neue Ökonomie, die von Adam Smith als Selbstorganisation der Märkte gedacht wurde, verspricht materiellen Wohlstand im irdischen Leben. Damit übernimmt sie das klassische Erlösungsprogramm – nun aber nicht für die Seelen nach dem Tode, sondern für die Menschen vor dem Tode.
Extra:- Kurzporträt von Walter Benjamin: Leben, Werk, Wirkung