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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Mark Poppenborg aus managerSeminare 318, September 2024
Der jüngste Durchbruch im Feld der Künstlichen Intelligenz wirft für immer mehr Menschen die Vertrauensfrage auf: Wem kann ich noch glauben? Sind meine Daten sicher? Sind die Bilder echt? Hilft mir gerade ein echter Mensch oder eine Maschine? Vertrauen aufzubauen wird für Unternehmen immer wichtiger – und immer schwerer. Was also tun? Für einige Unternehmensberater und -beraterinnen, Managementpublikationen und auch Firmenchefs und -chefinnen liegt die Antwort auf der Hand: Wir brauchen eine neue Funktion! Jemanden, der bei jedem Vorhaben den Datenschutz und die Datensicherheit im Blick hat. Jemanden, der die Governance mit der Compliance verbindet, kurz: einen Chief Trust Officer!
Wenn Unternehmen mit etwas nicht geizen, dann mit der Einführung neuer Funktionen und Positionen. In den vergangenen Jahren hörten wir zum Beispiel von Innovationsmanagern, von Feel-Good-Managern oder Talent-Relationship-Managern. Seit der Erfindung des Taylorismus wohnt konventionell geführten Unternehmen ein Reflex inne, der darin besteht, aus jedem umfangreichen Problem (Innovationsstärke entwickeln, Mitarbeitendenzufriedenheit erhöhen, Mitarbeiterbindung vertiefen …) ruckzuck eine neue Organisationsfunktion zu machen. So entstanden bereits Qualitätsabteilungen, Controlling-Abteilungen, Compliance-Abteilungen, Change-Abteilungen, ja, sogar Komplexitätsmanagement-Abteilungen inklusive entsprechender Funktionsleiter oder -leiterinnen. Ich gebe zu: Das muss nicht grundsätzlich falsch sein, doch es hat einen Preis, der häufig übersehen wird. Denn die Arbeitsteilung via funktionaler Ausdifferenzierung hat für Unternehmen zwar viele Vorteile, aber auch einen kapitalen Haken: Jede Funktion setzt sich logischerweise für ihre eigenen Interessen ein.
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich im Verband Deutscher Wirtschaftsingenieure e.V. (VWI) als Vertreter von rund 2.000 Studentinnen und Studenten aktiv war. Als ich, im Alter von 23 Jahren, an meiner ersten Vorstandssitzung teilnahm, war ich extrem nervös – hoher Puls, kalt-schwitzige Hände, rote Wangen –, aber ich hatte ein klares Anliegen: Ich wollte neue Projekte initiieren, die Hochschulgruppen ausbauen, den Nutzen der Mitgliedschaft erhöhen, das freiwillige Engagement fördern und sinnvolle Organisationsstrukturen erarbeiten, die all das wahrscheinlicher machten. Dies waren die Interessen, die ich im Vorstand in Form von Beschlüssen und Budgets durchsetzen musste. Doch ich war natürlich nicht der einzige mit Interessen. Das war mir schon vor der ersten Vorstandssitzung klar. Und so war ich nicht nur von einer gehörigen Portion Nervosität befallen, sondern auch von zahlreichen Erwartungen darüber, was die anderen Vorstandsmitglieder wohl ihrerseits erreichen wollten. Gespannt saßen wir uns gegenüber. Jeder mit seiner Agenda, jeder mit Erwartungen über die Erwartungen der jeweils anderen. In Lauerstellung. Auf den richtigen Moment wartend. Natürlich freundlich, aber auch misstrauisch. Vor allem gaben wir vor, mehr zu brauchen, als wir es tatsächlich taten. Der türkische Basar ließ grüßen. Was wir dagegen definitiv nicht waren: ein Führungsteam. Nein, wir waren eher eine Gruppe von Einzelkämpfern – jeder mit seinen Zielen. Und genau so ist es in vielen Unternehmen zu beobachten. Wie damals im VWI-Verband hat auch dort jede Funktion in erster Linie ihre Ziele im Blick, obwohl dies offiziell niemand zugeben würde. Offiziell wird stets an einem Strang gezogen. De facto aber prallen oft mehr Interessen und Ideen aufeinander, als finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.
Selbstverständlich hängen alle Funktionen in einem Unternehmen voneinander ab und sind integrierte Facetten der täglichen Wertschöpfung, ob Kostenkontrolle, Compliance, Change oder Komplexität. Doch durch die künstliche Herauslösung aus dem Verbund werden ihre Vertreterinnen und Vertreter zu exklusiven Anwälten der jeweiligen Funktion. Deswegen beobachte ich mit Sorge, dass sich in den vergangenen Jahren ein Differenzierungswahn ausgebreitet hat, der teils abenteuerliche Wege geht. Zum Inventar so mancher Firma gehören heute schon Chief Underwriting, Program, Legal, Revenue, Growth, People, Delivery, Diversity & Inclusion, Happiness und Remote Work Officers. Und eben auch der Chief Trust Officer.
Manche Kritiker behaupten, die vielen Positionen gäbe es nur, um Menschen einen schicken Titel geben zu können und deren Statusmotiv zu befriedigen. Da ist sicherlich etwas dran. Doch der Reflex sitzt tiefer und die Konsequenzen reichen deutlich weiter. Mit jeder neuen C-Level-Funktion wird auch den bestehenden Funktionen eine Facette ihrer Verantwortlichkeit entzogen. Zudem wird durch jeden neuen Chief Officer ein Nährboden für zusätzliche lokale Optimierung und weniger Gesamtüberblick geschaffen. Fazit: mehr Politik, weniger Unternehmertum. Für Konzerne ist das normal und manchmal auch eine unverzichtbare Begleiterscheinung des politischen Machtspiels, ohne das börsennotierte Kapitalgesellschaften nicht auskommen. Die Verantwortungsdiffusion beschränkt sich aber nicht nur auf Konzerne. Auch im Mittelstand wütet die funktionale Differenzierung. Und da erodiert sie Führungsteams so zuverlässig, dass man von solchen häufig kaum noch sprechen kann. Meist wird die Konkurrenz um Partikularinteressen – unter anderem in Form von Zielen und Boni – sogar noch institutionell verstärkt. Folglich sitzen sich die Abteilungsvertreter und Abteilungsvertreterinnen mit der Gewissheit gegenüber, sich nicht über den Weg trauen zu können.
Nun könnte man fragen: Moment mal, wenn es keine Ausdifferenzierung verschiedener Interessen in Funktionen gibt, besteht dann nicht die Gefahr, dass die entsprechenden Interessen im Unternehmen unter den Tisch fallen? Dass sie also viel zu wenig Beachtung finden? Dies ist ein nachvollziehbarer, aber schwacher Einwand. Viel klüger wäre es, sich die Frage zu stellen: „Wie sorgen wir dafür, dass diese Interessen integraler Bestandteil der Arbeit werden? Wie sorgen wir dafür, dass ihre Verfolgung eine Selbstverständlichkeit wird?“ Wer mit Abteilungen und Head ofs reagiert, ist bereits im Symptombekämpfungsmodus. Feuerwehr statt Brandschutz. Solange in einem Unternehmen von „dein“ Problem und „mein“ Problem gesprochen werden muss, ist von einer „Führungsmannschaft“ keine Spur. Hier passt das Beispiel Sport gut: Dort nämlich teilen Mannschaften ihre Probleme. Natürlich arbeiten sie ebenfalls arbeitsteilig; im Fußball etwa teilen sich der Abwehrspieler und der Stürmer die Arbeit. Aber sie haben beide das gleiche Problem: Sie müssen gemeinsam mehr Tore schießen als der Gegner.
Ich möchte keine Empfehlung für oder gegen Funktion XY aussprechen, auch nicht für oder gegen den Chief Trust Officer. Das würde ich mir ohnehin erst bei genauer Kenntnis des jeweiligen Unternehmens zutrauen. Ich finde es aber wichtig, dass sich die Verantwortlichen einmal folgende grundsätzliche Fragen stellen, bevor sie zur Einführung einer weiteren neuen Funktion schreiten: Welche Interessen sind meine Führungskräfte „gezwungen“ zu vertreten? Wie würde ich an ihrer Stelle handeln? Welches Verhalten wird bei uns im Unternehmen belohnt? Was hindert mein Führungsteam aktuell noch daran, ein Führungsteam zu sein? Habe ich eine Strategie, die auch durch die tieferen Winkel unserer Organisation Wirkung entfaltet, sodass die Gesamtinteressen des Unternehmens Berücksichtigung finden? Wenn Thema X gerade Priorität hat, wie entfaltet dieses Relevanz in Abteilung B?
Nicht jedem neuen Problem reflexhaft mit einem neuen C-Level-Vertreter zu begegnen, ist bereits ein guter erster Schritt auf dem Weg zu einem Führungsteam, wenngleich es damit allein natürlich nicht getan ist. Ich habe mich in meiner VWI-Zeit übrigens auch nicht nur mit Ruhm bekleckert: Als ich zusammen mit einigen anderen das sogenannte Bundesteam gründete, war ich so euphorisch, dass ich es unbedingt den „echten“ Managern nachmachen wollte. Und so führte auch ich Reportings mit Statusampeln ein, mit denen ich die unterschiedlichen Ressorts steuern wollte. Für mich eine prägende Erinnerung, wie es möglich ist, auch oder gerade wegen bester Absicht, einiges an Schaden anzurichten.
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