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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Reinhard Sprenger aus managerSeminare 303, Juni 2023
Wir leben in einer Stapelkrise. Finanzkrise, Immobilienkrise, Dieselkrise, Corona-Krise, Rohstoffkrise, Migrationskrise, Ukrainekrise, Klimakrise, Fachkräftekrise. Die Gegenwart ist unübersichtlich geworden. In vielen Unternehmen gehören deshalb Verunsicherung, Frustration und aufgeheizte Gemüter zum Betriebsklima. Dort geht es auch gar nicht mehr um die Frage „Wann ist die Krise vorbei?“, sondern „Wie gehen wir mit der Dauerkrise um?“.
Aber was ist das eigentlich: eine Krise? Die Antwort hängt ab von der Konzeption dessen, was wir „normal“ nennen. Die ist an historische Perspektiven gebunden. Die meisten Menschen haben für ihr Leben das innere Bild eines möglichst ruhigen Flusses, in dem Turbulenzen die Ausnahme sind. Der Krise kommt in dieser Vorstellung der Charakter des Besonderen zu. Sie ist eine Stromschnelle, die – um im Bild zu bleiben – möglichst zu umschiffen ist. Danach fließt das Wasser wieder ruhig und harmonisch. Dieses Bild war schon früher trügerisch: Dass die Zeit aus den Fugen ist, wusste schon Shakespeares Hamlet vor einigen Jahrhunderten. Im 19. Jahrhundert wurde Europa von Hungersnöten und Aufständen durchgeschüttelt. Ein Blick in die Zeitungen der 1920er- und 1930er-Jahre zeigt: Krise in allen Lebensbereichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber lebten wir in einer beispiellosen Zeit der Nichtnormalität. Wirtschaftlich und gesellschaftlich war alles nur in aufsteigender Linie, alles wurde immer besser und wohlhabender. Wer zum Beispiel als deutscher Mann kurz nach 1945 geboren wurde, hatte in der Glückslotterie des Lebens das große Los gezogen – zuvor wäre er schon zigmal in Kriegen füsiliert worden.
Diese goldene Nichtnormalität ist uns aber zur Normalität geworden. Wir erwarten von ihr Stetigkeit, als hätten wir Anspruch auf sie. Und sie hat uns, aufs Ganze gesehen, träge gemacht – auch weil die Erinnerung an kleine Zwischenkrisen verblasst ist: wie etwa die Beschäftigungskrise in den 1990ern oder die New-Economy-Krise. Das Wahrnehmen der Krise ist damit selbst die Krise – eine Krise der Urteilskraft. Unserer Epoche fehlt die Genauigkeit der historischen Einstufung. Wäre uns diese Perspektive präsenter, dann wüssten wir, dass das Bild vom ruhigen Fluss in die Irre führt. Und dass die Krise die Regel, die Nichtkrise die Ausnahme ist.
Die Krise als Regel: Ist das zu bedauern? Nicht unbedingt: Das Leben beginnt, wo die Komfortzone endet. Denn Krisen sind die Motoren der Vitalität. Sie starten Entwicklung und Wachstum. Im Privaten: All unsere Talente verdanken wir Widerständen und Krisen. Sie fordern uns heraus, nötigen uns, etwas zu verändern, lassen uns neue Sichtweisen und Fähigkeiten entwickeln – auch wenn das oft unbequem ist. Auch Beziehungen entscheiden sich in der Krise; Beziehungen sind dann krisen-„gehärtet“. Ebenso Unternehmen. Auch hier stimulieren Krisen Veränderungen. Sie wirken wie Warnblinkleuchten: Es muss etwas geschehen! Besonders wichtig für die Zukunftsfähigkeit: Nur die Krise löst von den Fesseln vergangener Erfolge. Das gilt für die gesamte Wirtschaft: Es war Karl Marx, der das wirtschaftliche Geschehen rhythmisch und zyklisch begriff, ewigen Schwankungen unterworfen, Aufschwung und Abschwung. Was dem Neuen die Chance eröffnet, das Alte abzulösen. Und letztlich in der Politik: Wenn gesellschaftliche Lebensqualität darin besteht, jeder einzelnen Person zur bestmöglichen Verwirklichung ihrer individuellen Fähigkeiten zu verhelfen, dann war das historisch noch immer mit Krisen verbunden.
Das Negative ist also das eigentlich Positive. Jeder Segler weiß, dass Gegenwinde viel häufiger sind als achterliche Winde. Der kundige Segler weiß sie zu nutzen … genau wie jener, der auf dem Deckblatt der Schrift abgebildet ist, mit der Francis Bacon 1620 die Krise als Fortschrittsmotor der Neuzeit einbürgerte: „Viele werden umherirren, und die Erkenntnis wird groß sein.“
Diese Erkenntnisleistung können wir mit Blick auf Unternehmensführung konkretisieren. Aus anthropologischer Sicht brauchen wir Führung nur in einer Situation: eben in Krisen. Gerade weil nicht alles vorhersehbar ist, nicht alles organisiert werden kann, nicht alles konfliktfrei und reibungslos läuft. Führung ist insofern Lückenbüßer für alles, was im Unternehmen nicht von selbstlaufenden Prozessen erledigt wird. Also für das, was „nicht normal“ ist. Auf dem Schreibtisch des US-amerikanischen Präsidenten steht ein kleiner, in Granit gemeißelter Satz: „The buck stops here.“ Etwa: Bis hierhin kann man den Schwarzen Peter schieben, nicht weiter.
Ich kann es gar nicht klar genug sagen: Führung hat ihren Aufgabenbereich „jenseits“ des Üblichen, wenn Routinen versagen, in der Krise. Wenn Seminaranbieter gegenwartshysterisch das Thema „Führung in der Krise“ anbieten, haben sie mithin das Wesentliche nicht verstanden. Ein Unternehmen braucht keine Führung, wenn das Unternehmen in ruhigen Gewässern segelt. Ich will es zuspitzen: In den letzten Jahrzehnten war Führung meistens überflüssig; gutes Managementhandwerk reichte bei schönem Wetter aus.
Es ist also nicht so, dass sich Führungskräfte bei der Bewältigung ihrer Aufgabe mit Krisen konfrontiert sehen. Vielmehr wird die Führungsaufgabe durch Krisen überhaupt erst geschaffen. Aus Sicht der Führungsnotwendigkeit ist die dauerkriselnde Gegenwart also „normal“ – und eben keine Krise. Sondern ihre Existenzberechtigung. Eine Paradoxie: Das Nichtnormale muss für sie normal sein. Wer das nicht verstanden hat, sollte sich nach einer anderen Aufgabe umsehen. Woraus sich die Frage nach der Qualität des Bewusstseins ergibt. Bin ich Opfer? Oder bin ich Gestalter? Freue ich mich über das Abenteuer, die Chancen, die Neubewertungen? Oder rufe ich nach einer schützenden Zentralinstanz, die mir Wellness-Führung garantiert? Was wir brauchen, ist im Institutionellen mehr Flexibilität, mehr Ausspülen dessen, was sich sklerotisch in den letzten dreißig Managementjahren abgelagert hat. Im Individuellen wird Entscheidungsbereitschaft zur Primärtugend – in zukunftsfreudiger Erwartung des Nicht-immer-weiter-so. Und vor allem das Aufgeben der Hoffnung, es würde noch mal wie früher. Auch früher war es nicht „normal“. Wer von der guten alten Zeit träumt, hat nur ein schlechtes Gedächtnis.
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