Wie gerne empören wir uns über unsere Mitmenschen, die sich – mal wieder – daneben benehmen: Der blöde Spruch eines Kollegen ruft den Gleichstellungsbeauftragten auf den Plan, die Andeutung unlauterer Geschäftspraktiken sorgt im ganzen Unternehmen für moralische Entrüstung. Manch ein uneinsichtiger Kollege scheint Tabus gar als Anregung zu betrachten, diese bewusst zu brechen. Dann regen wir uns auf – wie kann man nur? so geht das nicht! – und unterliegen ungewollt der Tyrannei der Werte. Diese Tyrannei ist so subtil, dass wir sie nicht einmal bemerken, und dabei absolut grundsätzlich. Niemand kann sich ihr entziehen.
Dahinter steckt die ethische Selbstüberschätzung nach dem Motto: 'Wenn alle so wären wie ich, wäre es um die Welt besser bestellt.' Wenn die eigene Ethik jedoch automatisch für andere zur Verpflichtung erklärt wird, kommt ihr die Sittlichkeit abhanden – und wird Tyrannei. Denn meine Ethik verpflichtet nur mich selbst; andere Menschen darauf verpflichten zu wollen, ohne über alternative Sichtweisen nachzudenken, ist vermessen und arrogant. Was am Ende daraus entsteht, ist keine Ethik, sondern ein öffentlicher Pranger, an den wir die Missliebigen stellen.
Und dieser Pranger tut gut: Unser moralisches Empfinden scheint von Zeit zu Zeit jemanden zu benötigen, über den wir uns moralisch entrüsten können. Stellen Sie sich vor, es gäbe niemanden mehr, über den wir uns empören könnten, weil sich alle ethisch einwandfrei verhalten. Würde uns dann nicht etwas fehlen?