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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Martin Vogel aus managerSeminare 292, Juli 2022
Früher, als es den Beruf des Managers in deutschen Unternehmen noch gar nicht gab, machte man noch Planungen, von denen man annehmen konnte, dass sie auch eintrafen – es sei denn, es kam zu Ölkrisen, Reaktorunfällen oder kriegerischen Auseinandersetzungen, die auch damals schon die Weltwirtschaft beeinflussten. Doch waren solche Ereignisse recht selten – zumindest in der Wahrnehmung vieler, die heute in Organisationen Verantwortung tragen. Seither haben die voranschreitende Globalisierung und Digitalisierung die Komplexität stetig erhöht, die Gegenwart ist geprägt von volatilen, unsicheren, komplexen und ambigen Umwelten der sogenannten „VUKA-Welt“.
Glaubt man dem einen oder anderen Changemanagement-Bestseller, dann müssen Organisationen auf diese Veränderungen in der Umwelt intern mit einem fundamentalen Wandel reagieren. In dieser Welt sind beständige Veränderungsbereitschaft und die Fähigkeit zur disruptiven Innovation die kritischen Erfolgsfaktoren zukunftsfähiger Organisationen. Neue Organisationsformen sind gefragt, etwa die agile oder holakratische Organisation, die versprechen, mit der gesteigerten Umweltkomplexität angemessener – weil flexibler – umgehen zu können.
Interessanterweise haben Flexibilität und Agilität jedoch bei der Einführung und Umsetzung derselben nur geringe Bedeutung: Hier überleben nach wie vor eben jene Planungsfantasien, die doch eigentlich als Teil der Problemstellung ausgemacht und als „nicht mehr zeitgemäß“ beschrieben werden. Die „agile Transformation“ selbst erfolgt in den meisten Fällen nicht agil, inkrementell oder selbstorganisiert, sondern erstaunlich linear und vergleichsweise simpel und geordnet, meist stufenweise entlang von Wachstumskurven oder Reifegradmodellen.
Aus der Sicht der Kritiker solcher Konzepte ist dieser Umstand schnell erklärt: Insbesondere Ansätze, die auf Prominenz aus sind, müssen geradezu unterkomplex und allgemein gehalten sein. Denn nur so entsteht der Eindruck, sie seien nahezu in allen Organisationen – in Unternehmen wie auch Verwaltungen – umsetzbar. Managementprinzipien und -methoden müssen mit eindeutigem Regelwerk daherkommen, allein schon, um sie gegen ein mögliches Scheitern zu immunisieren: Wenn das neue Konzept nicht zum gewünschten Erfolg führt, so wurden vermutlich bei seiner Einführung Fehler gemacht – so eine bekannte Immunisierungsstrategie, wenn es dann doch nicht so läuft, wie gewünscht.
Simpel in der Darstellung und leicht verständlich müssen sie sein – jedoch wiederum nicht so einfach, dass es für ihre Umsetzung keine Expertinnen bräuchte, mindestens als Wächter der ehernen Prinzipien: Wehe dem, der es wagt, die Scrum-Logik auch nur geringfügig an die eigene Organisationslogik anzupassen. Dauert ein Sprint auch nur einen Tag länger als vier Wochen, dann ist das Projekt praktisch schon nicht mehr zu retten. Die Beobachtung des Geschehens von einer Position mit entsprechendem Herrschaftswissen bleibt bei allem Wunsch nach Hierarchiefreiheit die Grundlage organisationaler Veränderungsprozesse. Das gilt auch dort, wo auf „Selbstorganisation“ als zentrales Konzept der zukunftsfähigen Organisation gesetzt wird. Der Wandel, zumal der von Organisationen, scheint zu wichtig, als dass man ihn sich selbst überlassen könnte. „Selbstorganisation braucht Führung!“ heißt es dann.
Jenseits bloßer Rhetorik ist es anscheinend gar nicht so einfach, bekannte und gut eingeübte Denkfiguren wie die der rationalen Planung fallen zu lassen. Solche Vorstellungen verlieren nicht schon deshalb an Einfluss, weil man sie als unzureichend bezeichnet. Bei der Analyse des Problems zu beginnen (hier: die VUKA-Welt), um dann eine Lösung zu entwickeln (die agile Organisation), und deren Umsetzung zu planen (agile Transformation), hat einfach nach wie vor einen hohen Überzeugungswert. In der Betriebswirtschaft bleibt Rationalität in der Entscheidungsfindung nach wie vor eine extrem instruktive Fiktion – obwohl Herbert Simon bereits 1978 für seine Idee der „Bounded Rationality“ den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt und Nils Brunsson wenig später zeigte, dass es durchaus rational sein kann, irrational zu handeln. Nicht planen, einfach machen – das ist eines der Mantras der Agilitätsbefürworter. Doch offenbar will Planlosigkeit gut geplant sein.
Was aber kann man angesichts dieses Umstandes nun unternehmen? Vielleicht hilft hier ein Blick in die Praxis. Gemeint ist hiermit ein konkreter Blick darauf, wie genau sich Veränderungsinitiativen in Organisationen ereignen. Interessanterweise gibt es zu dieser Frage erstaunlich wenig Forschung. Insofern kann es lohnenswert sein, die vergangenen drei bis fünf Veränderungsprojekte im eigenen Laden einmal dahingehend zu betrachten, wie genau sie entstanden sind.
Dann sieht man möglicherweise, dass die eigentliche Initiative für ein umfassendes Change-Projekt gar nicht vom Vorstand ausging, sondern letztlich von einer Mitarbeiterin in der Organisationsentwicklung, die vor Jahren ein externes Seminar besucht hat, das dort Gelernte aber lange nicht anwenden konnte. Dann entdeckt man vielleicht, dass viele der agilen Transformationen ursprünglich mit der Innenarchitektur beginnen: Die neue „Denk-Lounge“ wird schon mal gestaltet, auch wenn man noch gar nicht weiß, wer dort über was nachdenken sollte, aber die Möbel sind toll. Um dann endlich die elektrostatischen Post-its auf den neuen gläsernen Raumteiler zu kleben, ist dann jedes Projekt recht – einfach mal machen. So werden mitunter erste Erfahrungen mit Design Thinking entlang von Themenfeldern gemacht, bei denen sich die Notwendigkeit einer Prototypen-Entwicklung nicht unmittelbar erschließt. Die Entwicklung eines Risikomanagementsystems für ein Bankinstitut mit Scrum? Ja, warum nicht – einfach mal machen. Und zwar ganz einfach aus dem Grund: als herkömmliches Projekt nach der Wasserfalllogik hätte dazu niemand Lust gehabt.
Im Blick zurück lässt sich ganz im Sinne von Karl Weick „Sensemaking“ betreiben und in der Retrospektive eine rationale Entscheidung am Beginn eines Change-Projektes ausmachen. Tatsächlich aber dürften die meisten dieser Projekte eher jenen „Mülleimern des Organisierens“ ähneln, die Michael D. Cohen, James G. March und Johan Olsen schon Anfang der 1970er-Jahre beschrieben haben. Sie streichen mit dieser Metapher heraus, dass organisationales Entscheiden oftmals nicht besonders planvoll stattfindet. Insbesondere die enge Perspektive eines (hierarchischen) Beobachters, der ein Problem ausmacht, es analysiert, dann eine Lösung entwickelt und im Anschluss umsetzt, ist ihnen ein Dorn im Auge. In ihrer Vorstellung von „organisationalen Anarchien“ sind diese Elemente weit loser gekoppelt, als es die rationale Entscheidungstheorie nahelegt: Da gibt es zum Beispiel Probleme, die schon lange auf eine Lösung warten (z.B. die Entwicklung eines Risikomanagements). Oder es finden sich in Organisationen Lösungen, für die es noch keine Probleme gibt (z.B. eine „Denk-Lounge“, die man mal nutzen könnte, oder der Wunsch, die Inhalte der Scrum-Schulung auch einmal anzuwenden). Und es gibt dort Akteure, die ihre eigenen Ziele verfolgen und nach günstigen Gelegenheiten – etwa, sich zu profilieren – Ausschau halten.
Ob nun ein Projekt zustande kommt, hängt in dieser Perspektive dann weniger an entsprechender Planung. Es hängt vielmehr von Gelegenheiten ab, in denen Problemlagen, die eine Organisation möglicherweise schon seit Längerem mitschleppt, Lösungsmöglichkeiten, über die schon an anderen Stellen für ganz andere Probleme nachgedacht wurde, sowie eine bestimmte Konstellation von Mitwirkenden günstig zueinander finden. Um im Bild zu bleiben: Im Mülleimer organisationalen Entscheidens liegen diese drei Zettel in einem bestimmten Moment rein zufällig nah beieinander – und können dann von einem Akteur auch unabhängig von seiner hierarchischen Position herausgezogen werden. Aus dieser Perspektive sind Organisationen tatsächlich weit agiler und selbstorganisierter, als es uns weite Teile der Beratungsliteratur gegenwärtig nahelegen.
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