Lernen

Lebenslanges Lernen

Vom Beten zum Lernen – und zurück?

Früher glaubte der Mensch an die Vorsehung und die Kraft des Gebets. Heute glaubt er an Lebenslanges Lernen und Wandel durch Weiterbildung. Steckt hinter der Forderung nach immerwährendem Lernen demnach mehr Credo als Ratio? Ja, meint der Münchner Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler beim Blick auf die Lerngeschichte. Eine ironische und doch verblüffend überzeugende Beweisführung.
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Immerwährendes Lernen ist inzwischen allererste Bürgertugend. Fortbildung und Weiterbildung sind Begriffe, die sprachlich bereits ausdrücken, dass es da-bei um die Gestaltung der Zukunft geht. Lehren und Lernen setzen also ein Denken voraus, das die Zukunft als aktiv beeinflussbar versteht. Doch erst seit der Renaissance gerieten die Vervollkommnung der körperlichen und der gei-stigen Gaben des Menschen und der menschlichen Gesellschaft insgesamt als etwas Beeinflussbares ins Blickfeld, während man sich zuvor in sein Schicksal ergeben, nur Altbekanntes tradiert und Erlösung im Gebet gesucht hatte. Dann jedoch wurde Erziehung zu einer Art Gottesdienst und war fortan das entschei-dende und beliebteste Mittel, durch das die Erlösung, die jetzt, in der Moderne, als Fortschrittserwartung daherkommt, gefördert werden soll.

Traditionelle Orientierungspunkte wie die der Religionen, der Utopien oder der welterklärenden Philosophien sind in der Moderne flüchtig geworden. Wir kön-nen nicht länger behaupten, die Wahrheit in unserem Besitz zu haben und wir können uns nicht mehr auf eine gemeinsame Zukunftsperspektive stützen. Es gibt mindestens so viele Wege in eine befriedigende Zukunft wie es Individuen gibt. Das macht Hoffnung, eröffnet Chancen, ruiniert aber auch die traditionel-len Fundamente unserer Stabilität und verführt oft zu Illusionen.

Ohnmächtig werden wir von der Flut neuer Technologien überrollt, müssen versuchen, den Überblick zu behalten und Schritt zu halten. Auch die ungeheu-re Zunahme an Wissen produziert ein exponenzielles Wachstum von Nichtwis-sen und Unsicherheit, dem wir durch Lernen und Beratung – vergeblich – bei-zukommen versuchen.

War die Weltsicht in der Vormoderne in religiöse Vorstellungen eingebunden und durch kirchliche Rituale zeitlich strukturiert, so bestimmen heute das Ler-nen und die Beratung die Ritualisierungen des Alltagslebens und des Lebens-laufs. Kurz: Der postmoderne Mensch nutzt das Lernen als Religionsersatz.
Aber im Gegensatz zum vormodernen Beten führt das Lernen nicht mehr zur Gewissheit, im Jenseits einen festen Platz zu finden – und im Diesseits erst recht nicht. Es macht uns irgendwie heimat- und ratlos und treibt uns weiterhin zu den Beratungs- und Lernangeboten, die uns letztlich auch nicht vermitteln können, wozu Lernen eigentlich gut ist.
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