Kein Foto, keine Angaben zu Name, Alter, Geschlecht, Religion und Nationalität. Das Bundesfamilienministerium und fünf Unternehmen testen in einem Pilotprojekt die Vor- und Nachteile der anonymisierten Bewerbung. Seitdem lebt die Debatte: Können anonymisierte Bewerbungen Vorurteile gegenüber Bewerbern ausschalten und für mehr Diversity im Unternehmen sorgen? Ist das Modell praxistauglich? manage_HR mit Statements von Personalexperten.
Prof. Dr. Gunther Olesch, Geschäftsführer Personal, Informatik & Recht bei der Phoenix Contact GmbH & Co. KG, Blomberg: 'Von anonymisierten Bewerbungen halte ich nicht viel. Der Grund: Anonymisierte Bewerbungen sollen verhindern, dass gewisse Vorurteile zu schnell greifen, dass vorschnell Entscheidungen gegen Menschen mit Migrationshintergrund, gegen ältere Menschen etc. gefällt werden. So soll gefördert werden, dass auch diejenigen zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden, gegen die ein Unternehmen aus irgendwelchen Gründen Vorurteile hat. Doch was passiert, wenn jemand eingeladen wird, von dem weder der Namen noch die Herkunft noch das Alter bekannt sind? Der Kandidat tritt in Erscheinung und der Personalverantwortliche sieht 'aha, der ist schon über 50 Jahre alt' oder 'der ist türkischer Abstammung' – und sagt, 'nein, den will ich nicht haben'. Wenn ein Personaler keinen Mitarbeiter 50+ einstellen will, dann wird er auch keinen Mitarbeiter 50+ einstellen. Anonymisierte Bewerbungen können Vorurteile nicht beseitigen, sie zögern die Entscheidung gegen den entsprechenden Kandidaten lediglich um eine Sitzung hinaus. Meiner Ansicht nach sind anonymisierte Bewerbungsverfahren der falsche Ansatz, um Diversity im Unternehmen zu gewährleisten. Denn es wird am Symptom und nicht an der Ursache gearbeitet. Damit die Verschiedenartigkeit der Menschen akzeptiert und Vielfalt in der Belegschaft gefördert wird, muss an der Unternehmenskultur angesetzt werden. Die Geschäftsleitung muss bewusst machen, dass auch Mitarbeiter, die 50 Jahre und älter sind, noch leistungsfähig und -willig sind und das Unternehmen voranbringen können. Das ist ein langwieriger Prozess, der sicherlich ein paar Jahre dauert, aber nur so bekommt man Diversity in die Köpfe der Verantwortlichen. Mit dem Instrumentarium der anonymisierten Bewerbung ist es hingegen so, wie wenn ein rostiges Auto neu lackiert wird: Der Rost ist nach wie vor drunter.'
Michael Stuber, Diversity-Management-Berater, ungleich-besser.de, Köln: 'Auch wenn Unternehmen betonen, dass Qualifikation und Leistung bei ihrer Personalauswahl an erster Stelle stehen: Es steht außer Frage, dass die Auswahl von Mitarbeitern durch allerlei subjektive Kriterien beeinflusst wird. Wissenschaftliche Studien belegen eine signifikante Auswirkung von Bewerbungsfotos, Nachnamen oder Geburtsorten gerade auf die Vorselektion. Der Einfluss von Stereotypen und Vorurteilen auf die Bewerbervorauswahl wird indes tabuisiert. Werden Unternehmen damit konfrontiert, rechtfertigen sie ihre Personalentscheidungen z.B. mit der Notwendigkeit einer stimmigen Chemie zum Wohle einer guten Zusammenarbeit. Tief im Inneren jedoch wirkt der Wunsch nach Bestätigung des eigenen Ichs durch die Reduzierung korrektiver Einflüsse. Dieser Ansatz kommt zudem der eigenen Machtstrategie zugute. So setzt sich die eigene Norm subtil und nachhaltig durch und führt verbreitet zu Monokulturen.
Anonyme Bewerbungen führen dazu, sich auf die notwendigen Anforderungen einer Stelle zu konzentrieren und möglichst objektiv geeignete Kandidaten zu suchen und zumindest in der Vorauswahl zu berücksichtigen. Individuelle Eigenschaften finden im späteren Bewerbungsprozess weiterhin Berücksichtigung. Ich bin mir sicher: Personaler und Führungskräfte werden in Bewerbungssituationen zahlreiche Aha-Erlebnisse haben, wenn sie sich auf einen Test mit anonymen Bewerbungen einlassen. Es bedarf sicherlich einer Lernphase, in der die Vorteile deutlich werden – ebenso wie die menschlichen Defizite, die wir alle im Umgang mit 'Anderen' mitbringen. Weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft kann es sich leisten, dass Potenziale ungenutzt bleiben, die durch Unterschiede in Geschlecht, Alter, Herkunft und anderen Merkmalen entstehen.'
Alexandra Döll, Expertin für Bewerbungsfragen beim Verlag für die deutsche Wirtschaft, Bonn: 'Da in der anonymisierten Bewerbung auf Angaben wie Name, Alter, Geschlecht, Nationalität, Familienstand sowie auf ein Foto verzichtet wird, bietet sich der Vorteil, dass Personalverantwortliche nicht nach persönlichen Präferenzen entscheiden, sondern anhand sachlicher Kriterien wie Berufserfahrung, Qualifikation, Beurteilung durch frühere Arbeitgeber. Auch die – mittlerweile untersagte – Recherche über Bewerber im Netz entfällt aufgrund der Unkenntnis des Namens.
Auf der anderen Seite leidet das äußere Erscheinungsbild der Unterlagen, weil persönliche Daten in Arbeits- und Schulzeugnissen – Angaben wie Geburtsdatum, Name und Personalpronomen – durch Schwärzung unkenntlich gemacht werden. Rückschlüsse auf die Person sind dennoch möglich. So kann sich jeder Personalverantwortliche denken, dass es sich bei jemandem mit einer dokumentierten 20-jährigen Betriebszugehörigkeit nicht mehr um einen jungen Bewerber von unter 30 Jahren handeln kann. Eine hundertprozentige Anonymisierung der Bewerbungsunterlagen ist also gar nicht möglich. Ebenfalls kritisch: Auch wenn durch anonymisierte Bewerbungen die erste Hürde genommen zu sein scheint – die Einladung zum Vorstellungsgespräch – so ist fraglich, ob die Absage nicht unmittelbar nach dem Gespräch folgt, da der Personaler festgestellt hat, dass ihm – unabhängig vom Gesprächsverlauf – Nationalität, Geschlecht, Alter etc. des Bewerbers nicht zusagen. Somit handelt es sich lediglich um eine zeitliche Verschiebung der personenbezogenen Absage.
Vor dem Hintergrund, dass persönliche Daten wie Alter, Nationalität, Familienstand und Geschlecht für die Firmen auch weiterhin eine bedeutende Rolle spielen werden, wird die Vorselektion von geeigneten Kandidaten letztlich erschwert. Die Zahl der durchzuführenden Vorstellungsgespräche wird steigen und parallel dazu auch der Zeitaufwand im Rekrutierungsprozess. Gerade für kleine und mittelständische Betriebe ergibt sich hierdurch ein sehr hoher Aufwand, der gegebenenfalls in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Einstellung eines geeigneten Mitarbeiters steht.'
Heike Cohausz, geschäftsführende Gesellschafterin bei von Rundstedt HR Partners, Düsseldorf: 'In den Zeitgeist passen sie gut. Anonymisierte Bewerbungen signalisieren: keine Diskriminierung, keine Bevorteilung, Kompetenz entscheidet. Das klingt gut, ist 'politically correct' und damit medientauglich. Für Unternehmen hat die Idee allerdings einige Haken: Weil die Aussagekraft der Bewerbungen durch die Anonymisierung sinkt und die Vorauswahl entfällt, müssen deutlich mehr Bewerber eingeladen werden – der Verwaltungsaufwand steigt. Dies trifft besonders mittelständische Unternehmen, die im Vergleich zum Großkonzern mit spitzerem Bleistift rechnen müssen. Weil der richtige Kandidat letztlich nicht nur die richtigen fachlichen Kompetenzen mitbringen, sondern auch ins Team passen muss, bringt die anonymisierte Bewerbung außer Mehraufwand keinen wirklichen Vorteil.
Da Anonymisierung und Standardisierung einhergehen, verlieren sich zudem die persönlichen Kompetenzen und das individuelle Profil der Kandidaten in der Bewerbung. Erkennbar ist, was der Kandidat bislang gemacht hat, nicht jedoch, wofür er sich aufgrund persönlicher Fähigkeiten eignen könnte. Dies aber ist in einer Arbeitswelt, die auf Flexibilität und lebenslanges Lernen und Anpassen setzt, unverzichtbar. Jobwechsel und Veränderung benötigen mehr denn je die aussagekräftige Bewerbung und das passgenaue Profil – und keine standardisierten und anonymisierten Schemata.
Ökonomisch betrachtet macht Anonymisierung also wenig Sinn. Auch politisch gesehen ist es nicht unbedingt logisch, wenn Unternehmen einerseits Frauenquoten vorgeschrieben bekommen und ihnen gleichzeitig diktiert wird, bei der Kandidatenauswahl das Geschlecht unbeachtet zu lassen. Es ist daher fraglich, ob es sich lohnt, für das politisch Korrekte die unternehmerische Freiheit, bei der Kandidatenauswahl so vorzugehen, wie man es für richtig hält, einzuschränken. Denn langfristig betrachtet werden Unternehmen aufgrund der demografischen Entwicklung ohnehin gezwungen, bei der Auswahl der Kandidaten breiter zu sondieren, – weil Fachkräfte schlicht knapper werden.'