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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Dominik Strube aus managerSeminare 300, März 2023
Pandemie, brüchige Lieferketten, Energiekrise – noch weitaus stärker als unser Arbeitsalltag werden gerade unsere Gewissheiten durcheinandergerüttelt. Diese Zeit ist wie gemacht für Unternehmen, die sich schnell an Veränderungen anpassen können, also agil sind. In Deutschland wird seit fast zehn Jahren intensiv über Agilität diskutiert: Spätestens seit die Sorge darüber wuchs, die alte Welt könnte die Digitalisierung verpassen, propagierten smarte Beraterinnen und Berater die agile Organisation. Anpassen oder Aussterben – so lautete die Devise. Auch wenn das in vielen Fällen übertrieben war, so stellt Agilität für Unternehmen eine wichtige Fähigkeit dar. Inzwischen ist die Diskussion über das Thema auch reifer geworden: Forschende und auch viele Praktiker unterscheiden heute genauer, wann, wie und wo Agilität ein Unternehmen voranbringen kann. Dennoch beobachte ich immer wieder, dass rund um das Thema Agilität noch regelrechte Ammenmärchen existieren.
Der wohl verbreitetste Mythos ist der, dass Agilität Innovation hervorbringt. Doch mit agilen Methoden allein kommt niemand auf bahnbrechende Gedanken. Stattdessen ist Agilität durch und durch umsetzungsorientiert: Sie hilft dabei, schnelles Feedback darüber zu bekommen, wie die Umsetzung einer Idee beim Kunden ankommt. Genau darum ging es in der Softwareentwicklung, wo agile Methoden erstmals entwickelt und eingesetzt wurden: Man strukturierte die Umsetzung von Produktvorhaben agil, indem man ihr einen entsprechenden Rahmen gab. Im Mittelpunkt stand dabei stets das „Wie?“ besagter Umsetzung: Sind wir auf dem richtigen Weg? Die Frage nach dem Ziel – dem „Was“ – hatte damit nichts zu tun. Musste sie auch nicht. Schließlich wird in der Softwareentwicklung das Produkt für eine Auftraggeberin entwickelt. Diese weiß, wohin die Reise gehen soll.
Was aber passiert, wenn es keinen Auftraggeber gibt? Wer kennt die Richtung, wenn die Strategie für das eigene Haus erstellt werden soll? Es hilft nicht, einfach mit agilen Workshops loszulegen und darauf zu vertrauen, dass am Ende etwas Innovatives herauskommt. So sinnvoll Agilität in der Softwareentwicklung, im Projektmanagement, im Rahmen der Auftragsfertigung ist, so irreführend ist sie im Strategiebereich. Denn hier geht es nicht um Anpassung, es geht vielmehr um Unterscheidung – und dabei hilft agiles Vorgehen nicht.
Alexander Nicolai zufolge, Professor für Entrepreneurship an der Universität Oldenburg, fördert der Glaube, Unternehmen hätten sich kontinuierlich agil an ihr Umfeld anzupassen, die Konformität von Strategien, statt sich vom Wettbewerb zu differenzieren. „Die Zukunft erkennt man nicht, man schafft sie“, wusste schon der polnisch-russische Philosoph Stanislaw Brzozowski. Man könnte auch sagen: Soll der Business Case auf einer Blue-Ocean-Strategie beruhen, dann darf man nicht mit dem Strom schwimmen; dann muss man sich selbst einen neuen Markt schaffen.
Kurzum: Anpassung kann bloß ein Mittel zum Zweck sein. Der zentrale Trugschluss im Kontext der agilen Transformation liegt daher darin, sie als Organisationsparadigma zu verstehen, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Dafür taugt Agilität schlichtweg nicht. Sie kann bei der Optimierung unterstützen, weniger bei der Erstellung eines Ansatzes. Denn ein agiles Vorgehen meint eine nachholende Anpassung in einer zukunftsorientierten Welt, nicht die Schaffung einer solchen.
Anpassung bedeutet immer Opportunismus: die Anpassung an etwas Gegebenes, Formendes, von außen Kommendes – etwa, in der Software-Entwicklung, die Anpassung an die Erwartungen des Auftraggebers, der Auftraggeberin. Durch Anpassung an deren sich wandelnde Ansprüche bleiben agile Teams zwar lange Zeit lieferfähig. Allerdings werden sie dabei immer weniger innovativ, denn kontinuierliche Praktiken – wie agiles Arbeiten eine ist – haben die Tendenz, dass den Anwenderinnen und Anwendern das Bewusstsein dafür abhandenkommt, sich auch um übergeordnete Fragestellungen zu kümmern. Ein soziales System erhält sich schließlich selbst: Werden interne Logiken Tag für Tag praktiziert (und nicht mehr hinterfragt), entsteht Pfadabhängigkeit. Die eigene Routine wird zum Maß aller Dinge. Dies ist keine abstrakte Gefahr: Eine Forschergruppe am MIT unter Leitung von Andy Wu und Dagny Duckach hat die Auswirkungen täglicher Stand-up Meetings untersucht, einem Kernformat agiler Ansätze. Das Ergebnis: Durch die intensive Koordination dominierte das Tagesgeschäft die Aufmerksamkeit der Teammitglieder. Sie konzentrierten sich auf die Umsetzung, strategische Fragestellungen und vor allem Experimente fielen bei ihrer Arbeit unter den Tisch.
Diese Gefahr der Selbstreplikation droht auch im Außenverhältnis. Denn die intensive und ausgedehnte Zusammenarbeit mit Kundinnen und Kunden, wie sie beim agilen Arbeiten gewünscht ist, kann die Pfadabhängigkeit verstärken. Die Sicht des Kunden färbt gewissermaßen ab, mehr noch: Sie wird mit dem Markt gleichgesetzt. Veränderungen und neue Trends werden glatt übersehen. Starke Anpassung an den „falschen“ Kunden (also einen, dessen Bedürfnisse nicht mehr den aktuellen Entwicklungen am Markt entsprechen) kann daher riskant werden. Unter Umständen kann der extreme Kundenfokus also dazu führen, dass man aufgrund der Agilität – ergo der großen Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit – unbeweglich wird.
Verstärken können das Phänomen auch noch andere Nebenwirkungen agilen Arbeitens. Etwa der Umstand, dass es Homogenität im Team fördern kann. Gerade wenn sich alle im Team beziehungsweise Unternehmen sehr stark mit der eigenen Kultur identifizieren, kann dies zu verengten Blickweisen und vorschnellen Lösungen führen. Die Wahrnehmung verengt sich, und damit der Handlungsspielraum. Kurz: je einiger das Team, desto konventioneller die Gedanken.
Agilität ist mächtig, aber sie ist weder eine Selbstläuferin noch die Lösung für alles. Agiles Arbeiten braucht vielmehr ein ständiges Korrektiv. Dort, wo das agile Arbeiten erfunden wurde – in der Softwareentwicklung –, lebt es vom Spannungsfeld zwischen einem agil arbeitenden Lösungsteam, das für kontinuierliche Weiterentwicklung sorgt, und einem Product Owner, der um die Fallen dieser Art zu arbeiten weiß und darauf achtet, dass zu viel Kontinuität und Homogenität nicht in einer Anpassungsfalle enden.
Kurz: Ohne eine Führung, die bereit ist, bewusst für Störungen zu sorgen, geht es nicht. Agile Arbeitsweisen entbinden nicht von der Notwendigkeit, vorauszudenken, also den Business Case mitsamt einem Veränderungsziel zu klären. Für all das gibt es Mittel, vom profunden Verständnis des Unternehmenszwecks bis hin zu Methoden, die helfen, der eigenen Voreingenommenheit entgegenzuwirken. Erst die Kombination agilen Arbeitens mit all dem macht wirklich agil. Mit Agilität allein bewegen Unternehmen und Teams dagegen nichts.
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