Vor allem waren es Dauerbrenner-Themen, die auf dem zweiten, von der HR-Alliance organisierten ZukunftsForum Personal Mitte September 2009 auf der Agenda standen: demografischer Wandel, Globalisierung und Co. Aktuelles zur Krise kam eher am Rande vor. Dafür aber entdeckten die Personalprofis ihr Herz für das Thema Prekariat.
Unter einen herausfordernden Titel hatten die HR-Alliance (bestehend aus den Personalernetzwerken Selbst GmbH, Goinger-Kreis und dapm) und das Münchener Bildungsforum ihr zweites Zukunftsforum Personal vom 17. bis 18. September 2009 gestellt: 'Zwischen Wissensavantgarde und Prekariat: Herausforderungen für das System Arbeit gerade jetzt in der Krise!' war der Kongress überschrieben. Über 400 Personaler hatte dieses Motto nach München gelockt.
Hatten sie angesichts des Krisenwortes im Veranstaltungstitel Tipps zur aktuellen Lage erwartet, so wurden sie indes eines Besseren belehrt. 'Es gibt nur eine HR-Agenda – ob im Sonnenschein oder in der Krise', gab HR-Alliance-Vorstandsmitglied und Telekom-Arbeitsdirektor Thomas Sattelberger die Linie vor. Der Kongress konzentrierte sich in weiten Teilen denn auch auf die großen, übergeordneten Dauerbrenner-Themen, die das HR-Management seit längerem bewegen und auch in Zukunft noch tangieren werden. Beispiel: der demografische Wandel. Ihm widmeten sich etwa Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln und Patrick M. Liedtke von The Geneva Association for the Study of Insurance Economics in ihrem Vortrag über lebenszyklusorientierte Personalarbeit. Also eine Personalarbeit, die darauf abzielt, die Arbeitskraft bis ins hohe Alter zu erhalten, und die stärker berücksichtigt, dass sich die herkömmliche Abfolge von Ausbildung, Berufstätigkeit und Ruhestand zunehmend auflöst – zumindest bei den höher qualifizierten Mitarbeitern, jenen also, die auf dem Kongress unter das etwas hoch gestochene Schlagwort 'Wissensavantgarde' fielen.
Dass die Wissensavantgarde im Mittelpunkt des Personalerinteresses steht, ist nichts Neues. Neu war in München dagegen durchaus das Bemühen darum, sich auch stärker dem anderen Pol moderner Personalarbeit zu widmen: jenen Menschen nämlich, die ungeschützt beschäftigt sind oder aufgrund ihrer Ausgangslage bislang gar nicht erst die Chance auf eine Beschäftigung erhalten: dem so genannten Prekariat.
Peinliches Eingeständnis von Daimler-Personalchef PorthDass der Begriff tatsächlich einer ist, den Personalmanager nicht eben häufig im Munde führen, bewies Wilfried Porth: Der Daimer-Personalvorstand erklärte in einer Podiumsdiskussion zum Erschrecken manchen Zuhörers freundlich-freimütig, das Wort Prekariat noch nie gehört zu haben. Andere waren da zwar etwas weiter als Porth. Allerdings gingen die Begrifflichkeiten ziemlich durcheinander, auch recht abenteuerliche Interpretationen des Prekariatbegriffs kamen aufs Tapet. Zukunftsforscher Matthias Horx etwa sprach von einem 'positiven Prekariat'. Was er meinte, waren Menschen (in der Regel Hochqualifizierte), die stärker an interessanten Projekten als an einem gesicherten Arbeitsplatz interessiert sind. Laut Horx könnte eine zukünftige Gesellschaft hauptsächlich aus solchen selbstverantwortlichen 'Ich-AGs' bestehen, die keinen Wert auf eine Festanstellung legen und mit Freuden von Job zu Job ziehen.
Auch im Workshop 'Das Ende des Kollektivismus in der Personalarbeit' meinten die beiden Referentinnen, Daimler-Personalerin Angela Titzrath-Grimm und Accenture-Personalerin Karen Hoyndorf, wenn sie von 'prekär Beschäftigten' sprachen, ähnlich wie Horx eher die Hochgebildeten, die sich keine Festanstellung wünschen, als die Geringqualifizierten, die oft aus der Not heraus in einer befristeten Beschäftigung landen. Über die Frage, ob nicht in Wahrheit auch die Hochqualifizierten in vielen Fällen nur aus der Not eine Tugend machen, wenn sie sich für befristete Beschäftigungsverhältnisse entscheiden, wurde in besagtem Workshop gestritten.
Dem Kollektivismus ein EndeEinig war man sich allerdings darin, dass das Personalmanagement – so oder so – vor einer neuen Herausforderung steht: In den Betrieben gibt es zwei Gruppen von Mitarbeitern: die prekär Beschäftigten und die Festangestellten. Und darin steckt jede Menge Konfliktpotenzial sowie die Gefahr mangelnder Integration, mangelnden Commitments und mangelnder Leistungsfähigkeit. Daimler-Personalerin Titzrath-Grimm betonte daher: 'Das Personalmanagement muss Wege finden, die allen ein erträgliches Atmen erlauben.' Eine ungute Polarisierung zwischen Festangestellten und prekär Beschäftigten ließe sich vor allem durch eine zielgruppenspezifische Personalarbeit vermeiden, bei der befristet Beschäftigte nicht nur in den Genuss von Weiterbildung kommen, sondern auch weiterer, auf sie zugeschnittener Angebote, beispielsweise Coaching-Offerten und Karriereberatung. Auf diese Weise, meinten die Workshopleiterinnen, könnte die aus der ungeschützten Beschäftigung erwachsende Benachteiligung bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden.
Doch nicht nur die wachsende Gruppe der prekär Beschäftigten stellt das Personalmanagement vor neue Herausforderungen. Personalmanager müssen in Zukunft ihren Blick auch stärker auf eine Gruppe richten, für die sie bis dato völlig blind waren: jene Menschen nämlich, an die man landläufig denkt, wenn der Begriff 'Prekariat' fällt: Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, die bislang wenig Chancen hatten, ihre Talente in die Unternehmen einzubringen: Hauptschüler und Migranten beispielsweise. Nicht nur aus moralischen Gründen und – wie Thomas Sattelberger mehrfach betonte – aus Gründen staatsbürgerlicher Verantwortung sind diese Menschen für die Unternehmen von Interesse. Sie sollten, so der Tenor auf dem Kongress, vielmehr auch als bislang brach liegende, wertvolle Personalressource wahrgenommen werden, ohne die Unternehmen in Zeiten des sich verschärfenden Fachkräftemangels nicht mehr auskommen können.
'Migranten sind nicht das Problem, sondern die Lösung'Eine Erkenntnis, die sich bislang allerdings immer noch nicht durchgesetzt hat, wie im Workshop 'Migranten: Strukturelle Unterschicht oder Begabungsreservoir?' deutlich wurde. 'Wir verlieren die deutschen Loser und ignorieren die Migranten. Das ist einfach zu viel!', brachte ein Teilnehmer die Misere auf den Punkt. Tatsächlich waren sich die Workshopteilnehmer einig: Weder die deutsche Gesellschaft noch die Unternehmen als Teil dieser Gesellschaft haben sich bislang ausreichend geöffnet, um Menschen mit Migrationshintergrund eine ernstzunehmende Chance zu bieten.
'Migranten sind nicht das Problem, sondern die Lösung', appellierte daher auch Keynote-Speaker Stephan Jansen ans Publikum. Der Präsident der privaten Zeppelin University in Friedrichshafen geißelte in seinem Vortrag die mangelnde Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems, das Migranten, wie überhaupt Sprößlinge unterer Schichten, eklatant benachteilige. 'Unsere Pfadabhängigkeit im Schulwesen produziert hinten Hartz IV', klagte Jansen und forderte die Personaler auf, sich dafür stark zu machen, dass das dreigliedrige Schulsystem einem eingliedrigen System mit individueller Förderung weicht.
Hehre Münchener VorsätzeDie führenden Köpfe der HR-Alliance griffen den Vorschlag gerne auf. Wohl einerseits eingedenk des Selbstauftrages, den sie sich bei der Gründung ihres Netzwerkes vor zwei Jahren auf die Fahne geschrieben hatten: der Personalfunktion in Politik und Öffentlichkeit eine Stimme zu verleihen. Und andererseits auch auf Drängen einiger Teilnehmer, die den Personalerkongress mit einem klaren Statement beendet wissen wollten. Pflichtbewusst forderten die HR-Alliance-Vorstände zum Abschluss der Veranstaltung die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems. Und außerdem erlegten sie sich die Verpflichtung auf, in ihren Unternehmen Hilfsinitiativen zur Unterstützung von Hauptschülern zu starten.
Die Inspiration dazu dürfte sie am Vorabend ereilt haben: Anlässlich der dapm-Gala zum Abschluss des ersten Kongresstages stach nämlich aus einer Flut von Preisen, die auf dem Event verliehen wurden, einer besonders hervor: der Goinger-Förderpreis, mit dem eine Hamburger Initiative ausgezeichnet wurde, bei der Unternehmen Hauptschüler im Übergang von der Schule in den Beruf unterstützen. Das Projekt rührte viele so sehr, dass es Standing Ovations und feuchte Augen gab.