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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Sascha Reimann aus Training aktuell 07/23, Juli 2023
„The world of learning is to become very, very different“, sagt Elliott Masie in seiner Keynote, einem der Höhepunkte der Kongressmesse Learntec, die Ende Mai 2023 in Karlsruhe stattgefunden hat. Damit fasst der renommierte US-Lernexperte, der einst den Begriff E-Learning geprägt hat, den Eindruck zusammen, der sich allen Besuchern der größten Edtech-Veranstaltung in vier Messehallen und einem dreitägigen Kongressprogramm regelrecht aufdrängt: Die Art, wie digitale Lerninhalte hergestellt, ausgeliefert und rezipiert werden, ist in einem fundamentalen Wandel, dessen Ausmaße und Schnelligkeit auch für die dreißigjährige Geschichte der Learntec ungewöhnlich sind, in der es an „Game-Changern“ sicher nicht mangelt.
Gründe für diesen Wandel gibt es vor allem drei, wie Masie in seinem Vortrag erläutert. Einer davon ist die veränderte Erwartungshaltung von Lernenden, zu der neue Technologien, die durch Social Media geprägten Rezeptionsgewohnheiten und nicht zuletzt die Covid-Erfahrungen beigetragen haben. Und auch die Arbeitswelt mit ihren schnellen Veränderungen und wachsenden Skill-Anforderungen wirkt sich aufs Lernen aus, das Masie zufolge von den Learning Professionals nicht länger als „One Shot“ betrachtet werden kann – als solitäre Lerneinheit, die hergestellt und ausgespielt wird. Lernen gleicht vielmehr einem Puzzle, das es Stück für Stück zusammenzufügen gilt, so Masie weiter. Aufgabe von Learning Professionals ist demnach, diesen Puzzle-Prozess kontinuierlich und individuell zu gestalten.
Der dritte Grund, warum sich die Lernwelt aktuell „sehr, sehr“ verändert, lässt sich mit zwei Buchstaben beschreiben: KI. Tatsächlich dominiert die Diskussion um Künstliche Intelligenz, ihre Möglichkeiten und Gefahren, die diesjährige Learntec, wie es kaum ein Thema zuvor getan hat. So sehr, dass viele noch kurz zuvor hochgehandelte Themen wie das Metaverse oder ein New Work Approach fürs Lernen regelrecht in den Hintergrund gedrängt werden. Verwunderlich ist das nicht, denn auch wenn es sich noch um eine „Emerging Technology“ handelt, wie Masie betont, ist schon in diesem frühen Entwicklungsstadium abzusehen, dass ihre Auswirkungen auf die Bildung grundlegend und weitreichend sein werden.
Die Edtech-Anbieter überschlagen sich daher regelrecht damit, ihre KI-Expertise nach außen zu kehren, wobei sich nach Masies kritischer Einschätzung viele nur das Label an den Ausstellungsstand kleben, ohne die Technologie wirklich durchdrungen zu haben. Wie KI eingesetzt werden könnte – dazu gibt es auf Kongress wie Messe immerhin einige interessante erste Ansätze zu sehen und zu hören: Forschungsprojekte, erste marktreife Produkte, Best-Practice-Erfahrungen aus der Lehre. Zusammen geben sie einen Eindruck von der Bandbreite der Neuerungen, die in naher Zukunft durch KI zu erwarten sind.
Viele der erwähnten Anwendungen gehen in eine Richtung, die Masie als entscheidende Verbesserung im Lernen begrüßt: zum individualisierten Lernen. Ganz neu ist das Thema nicht, auf der Learntec werden schon seit Jahren ambitionierte KI-Systeme präsentiert, die Lernfortschritte messen können (Learning Analytics) und daraus bedarfsgerechte Lernpfade generieren bzw. passende Lerninhalte vorschlagen (Adaptive Learning). Damit soll ein Problem gelöst werden, das Bildungsanbieter wie Unternehmen gleichermaßen haben: standardisierte Inhalte und unterschiedliche Lernbedürfnisse mit technischer Hilfe zusammenzubringen.
Neu an den aktuellen Angeboten ist, dass die Interaktion mit der KI in Normalsprache und relativ informell geschehen kann. KI-Experte Markus Bernhardt vom britschen Anbieter Obrizum beschreibt das Prinzip, bei dem automatisch generierte Fragen den Wissensstand von Lernenden erfassen. Zusammen mit einer Selbsteinschätzung der Lernenden („Wie sicher oder unsicher bin ich mir bei der Antwort?“) wird das System in die Lage versetzt, die Lernangebote entsprechend zuzuschneiden. Der E-Learning-Anbieter Area9 Lyceum nutzt dieses Verfahren, um persönliche Kompetenzlücken zu ermitteln. Die KI erfasst die Antworten und Selbsteinschätzungen der Lernenden dabei immer wieder, um den Lernpfad ständig neu auszurichten. Außerdem können zu den Punkten, an denen Lernende offenbar Schwierigkeiten hatten (= die mehr Bearbeitungszeit gebraucht haben), automatisch individuelle Refreshing-Fragen generiert werden.
Ebenfalls zur Personalisierung des Lernens trägt eine KI-Anwendung bei, die weniger auf die Gestaltung des Lernpfads als auf die Begleitung des Prozesses gerichtet ist: Tutoring. KI-Systeme können Lernende permanent im Lernprozess begleiten, unmittelbares Feedback geben, bei der Materialsuche unterstützen und Fragen beantworten. Wie das aussehen kann, zeigt das Projekt Syntea der IU Internationale Hochschule, das Tim Schlippe, Professor für Künstliche Intelligenz, und Quintus Stierstorfer, Director Synthetic Teaching an der IU, vorstellen. Dabei handelt es sich um einen KI-basierten persönlichen Lerncoach, der Studierende unterstützt, indem er zum Beispiel inhaltliche Fragen zu Lernmodulen beantwortet und auf passende Lerninhalte verweist. Der Assistent, der nach IU-Angaben bereits bei 10.000 Studierenden im Einsatz ist, erleichtert durch einen menschlichen Avatar die Interaktion und berücksichtigt zudem den jeweiligen Wissensstand der Lernenden.
Einen anderen Tutoring-Ansatz beschreibt Jürgen Seitz, Professor für Marketing, Medien und Digitale Wirtschaft an der Hochschule der Medien Stuttgart. Das Forschungsprojekt AIEDN beinhaltet einen KI-gestützten Video-Player, der Fragen von Lernenden beantworten können soll und die jeweils richtigen Lernvideos an den jeweils richtigen Stellen abspielt. Damit es dabei nicht zu Fehlangaben kommt und Antworten auch garantiert prüfungstauglich sind, kommen (wie bei Syntea) nur von der Hochschule gesicherte Inhalte zum Einsatz, im konkreten Fall die Video-Tutorials des bekannten Mathe-Youtubers Daniel Jung. Der didaktische Clou: Der Assistent gibt nicht die Antworten selbst vor, sondern liefert die nötigen Hilfsmittel, mit denen sich die Lernenden die Lösung selbst erarbeiten können.
Mit dem Einsatz von KI-Tutoren verbinden sich gleich mehrere Vorteile. Die Hochschule wird personell entlastet, die indivduelle Betreuung wird verbessert und rund um die Uhr verfügbar gemacht. Das hat auch eine Dimension über das Praktische hinaus, wie Rafaela Kraus, Professorin für Unternehmens- und Personalführung im Studiengang Management und Medien der Universität der Bundeswehr in München, betont. Denn „personalisiertes Tutoring für jedermann“ leistet einen Beitrag zu einem demokratischeren bzw. inklusivem Lernen. Mit KI-Hilfe können zum Beispiel Sprachbarrieren oder Einschränkungen wie eine Lese- und Rechtschreibschwäche leicht überwunden werden, wodurch sich Studierende empowert fühlen, weil sie endlich ihren Gedanken ohne Einschränkung Ausdruck verleihen können, so Kraus.
Etwas Ähnliches wie beim Zugänglichmachen von Lerncontent an Hochschulen können KI-Applikationen auch im Corporate Learning leisten, sagt Markus Bernhardt vom britischen Anbieter Obrizum. In seinem Kongressbeitrag skizziert er die Möglichkeit, mit KI-Hilfe sämtliches in Unternehmen vorhandenes und teils verborgenes Wissen zu bündeln und Mitarbeitenden im „Moment of Need“ verfügbar zu machen. Dabei kommt die Fähigkeit von KI zum Tragen, sich nahezu beliebig viele Daten – Powerpoint-Präsentation, selbst gedrehte How-to-Videos, Learning Nuggets – merken zu können, sogar ohne dass diese vorher sortiert, formatiert oder an einer bestimmten Stelle gespeichert werden müssen. Haben Mitarbeitende einen akuten Wissensbedarf, erhalten sie Zugriff auf den passenden Content.
Zu den vorgestellten KI-Anwendungen mit Berufsbezug gehört außerdem ein System, das Experten vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz DFKI entwickeln. Es soll Lerninhalte verschiedener Anbieterplattformen intelligent miteinander verknüpfen, damit Lernende, die mehrere Angebote nutzen, Wiederholungen vermeiden und ihre Lernfortschritte akkumulieren können. Ein von der Hochschule Schmalkalden zusammen mit Weiterbildungsanbieter WBS Training entwickeltes KI-System soll kleinen und mittelständischen Unternehmen die Personalentwicklung erleichtern, indem es zu angestrebten Jobprofilen rückwärts die passenden Weiterbildungswege generiert.
Kurzfristig am interessantesten für Unternehmen dürften KI-Leistungen in dem Bereich sein, in dem heute viele L&D-Professionals tätig sind und in den auch ein Großteil der Lernbudgets von Unternehmen fließen: die Content-Produktion. Hier kann KI assistierende Funktionen übernehmen. Ein AI Authoring System von imc etwa formatiert, kürzt oder übersetzt Text und hilft, typische Gestaltungselemente wie Fragen einzufügen. Damit soll es zum Beispiel Vertretern aus Fachbereichen möglich sein, mit wenig Aufwand ansprechende Lerninhalte zu erstellen – etwa für den internen Gebrauch.
Die bereits erwähnten Anbieter vom dänischen Unternehmen Area9 Lyceum gehen mit ihrem Autorentool noch einen Schritt weiter: Es kann ganze Lerneinheiten weitgehend selbstständig aus Vorlagen erstellen. Damit ist es zum Beispiel möglich, aus einem PDF-Dokument oder einer Präsentation die enthaltenen Informationen herauszulesen und sie inhaltlich zu ergänzen. Aus dem ausformulierten Text kann dann automatisch ein Selbstlernkurs mit Multiple-Choice-Fragen oder Lückentexten generiert werden.
Zwar betonen die Anbieter, dass ihre KI-Lösungen nicht als Konkurrenz zu menschlichen Lernexperten zu verstehen sind, sondern als Werkzeug, das ihnen helfen soll – dennoch braucht es nicht viel Fantasie, um in der KI eine aufkommende digitale Konkurrenz für viele Lernprofis zu sehen. Nicht von ungefähr fragt Rafaela Kraus Lehrende, Weiterbildner und Personalentwicklerinnen, wie es eigentlich mit ihrem „Burggraben“ aussieht – also ihren Möglichkeiten, diese Konkurrenz auf Abstand zu halten. Denn wenn KI nicht nur Tutoring und Content-Erstellung, sondern auch noch andere Bildungsjobs teilweise oder ganz übernehmen kann, müssen L&D-Professionals umso besser wissen, was sie abhebt, welche Methoden noch funktionieren und welche nicht automatisierbaren Fähigkeiten in einer KI-geprägten Lernwelt umso mehr gebraucht werden.
Kraus warnt jedoch davor, KI nur defensiv zu betrachten, auch wenn es neben der Gefahr für Jobs viele weitere Kritikpunkte gibt, etwa Biased Data, Probleme beim Prüfungswesen oder die ungeklärte Frage nach der Wahrung von intellektuellem Eigentum. Trotzdem ist KI ein regelrechter „Booster für die Bildung“, so die Professorin: „Wir können mit KI schneller, effektiver und individueller lernen.“ Sie selbst nutzt ChatGPT zum Beispiel, um Fallbeispiele und realitätsnahe Case Studies für ihre Studierenden zu erstellen, was „viel schneller und passgenauer“ funktioniert als mit Google. Auch für die zielgruppengerechte Ansprache von Lernenden eignet sich die KI, so Kraus weiter, etwa durch Prompts wie „Erkläre mit Fußball, was Marketing ist“ oder „Denke dir ein Spiel für Kindergartenkinder zum Thema Inklusion aus“.
Die Professorin empfiehlt Lehrenden wie Personalentwicklern dringend, die Technologie möglichst viel zu nutzen – und auch von Lernenden nutzen zu lassen, zumal KI in der Bildung ohnehin nicht zu vermeiden (oder nachzuweisen) ist. Zugleich sollten aber die Standards steigen, was Aufgaben, Umfang und Form angeht. „Augmented Teaching“ nennt Kraus diese aufgewertete Art der Lehre. Statt ein Konzept zur Einführung von Diversity Management entwickeln zu lassen und das Vorgehen zu beschreiben, könnten Studierende mit KI-Hilfe dasselbe Konzept auch noch mit Experteninterviews validieren und ein passendes Kommunikationskonzept entwickeln, nennt die Professorin ein Beispiel aus ihrer Praxis. Und da auch die Lehrenden von Bearbeitungsaufwänden entlastet werden, bleibt mehr Zeit für andere Dinge wie eine bessere Didaktik, klügere Aufgabenstellungen und individuellere Betreuung. „Die Lernenden bleiben trotzdem verantwortlich für das, was sie mit KI-Hilfe produzieren und abgeben“, stellt Kraus klar. Außerdem müsse jede Zusammenarbeit mit KI deutlich markiert werden.
Letztlich geht es aktuell vor allem darum, dass Lehrende und Lernende, Anbieter und Personalentwickler Erfahrungen mit der KI-Technologie und ihren Möglichkeiten sammeln. Die sind nämlich noch keineswegs bekannt oder festgelegt, wie Elliott Masie betont. Sein Aufruf an die Lernwelt lautet folglich „explore, experiment, compare“. Und dabei sollten sie bedenken, dass keine Technologie alleine dafür sorgen kann, dass Lernende ihr persönliches „Puzzle“ richtig zusammensetzen, auch nicht KI. Umso wichtger, dass sich Learning Professionals neugierig mit den neuen Möglichkeiten auseinandersetzen und sie da einsetzen, wo sie einen Mehrwert bringen. Masie: „Take the best of it and use it!“
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