Diese Geschichte, die ich immer wieder gern in Seminaren erzähle, ist ein wunderbares Beispiel für Verhandlungen nach der Harvard-Methode. Sie zeigt: Das Erforschen und Anerkennen von tiefer liegenden Interessen erlaubt kreative Lösungen, die beide Verhandlungspartner zu Gewinnern machen. Ich habe sie selbst erlebt während der elf Jahre, die ich in Kanada gelebt habe. Damals arbeitete ich als Immobilienmaklerin in British Columbia.
Die Geschichte: Das Traumhaus
Bei Vancouver, Kanada, stand ein absolutes Traumhaus zum Verkauf. Auf einem Felsvorsprung direkt über dem Meer gelegen, nur durch ein paar breite Steinstufen vom eigenen Strand getrennt, jedoch hoch genug, um vor Hochwasser geschützt zu sein. Das Grundstück gepflegt und einladend. Über 1.200 m2 Wohnfläche plus 300 m2 Einliegerwohnung, riesige Glasfenster zum Meer hin, moderne Architektur in bester Qualität. Der Verkäufer war ein vermögender Mann und Besitzer weiterer acht Häuser in der Gegend. Er machte dem Makler unmissverständlich klar, dass er kein Kaufangebot unter dem genannten und deutlich über dem Marktwert liegenden Preis akzeptieren würde. Häuser werden in Nordamerika ge- und verkauft wie in Europa vielleicht ein Auto. Verhandlungsspielraum beim Preis wird daher als völlig normal vorausgesetzt. Zu dieser Zeit herrschte außerdem ein 'Käufermarkt', d.h. die Kunden hatten die Wahl und Immobilien wurden zu knapp kalkulierten Preisen verkauft. Umso ungewöhnlicher war deshalb die Forderung des Eigentümers nach einem überhöhten Festpreis.
Mehrere Kaufangebote gingen ein. Sie lagen alle, wie zu erwarten, unter dem geforderten Kaufpreis und wurden prompt kategorisch abgelehnt. Nach längerer Zeit besichtigte ein junges Ehepaar das Anwesen und verliebte sich geradezu in Haus und Grundstück. Obwohl sie alle Finanzierungsmöglichkeiten – inklusive einer Anleihe bei der Oma – ausschöpften, fehlten ihnen noch 50.000 Dollar, die einfach nicht mehr aufzutreiben waren. Da hatte der junge Mann einen Einfall ...
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