In die Annalen der Learntec könnte das Jahr 2010 als Jahr des Umbruchs eingehen. In mehrfacher Hinsicht: Mit der Öffnung der Ausstellung für allgemeine Bildungsanbieter gab das einstige E-Learning-Mekka seine strikte Ausrichtung auf Technik auf – und warf damit veraltete Vorstellungen vom elektronisch unterstützten Lernen über Bord. Der Fokus auf Bildung soll ganzheitlicher werden. Ein neuer Weg, den Messe und Kongress künftig mit neuem Personal weitergehen wollen.
'E-Learning, wie wir es bisher verstanden haben, ist tot.' Eine solche Aussage mag kaum überraschen angesichts des Siegeszugs sozialer und kollaborativer Web-2.0-Anwendungen. In der Eröffnungsrede der Learntec 2010 bedeutet diese Aussage aber eine kleine Revolution. Schließlich war die älteste deutsche E-Learning-Messe bislang ein Mekka für Schulungstechnik. Die Technik stand im Vordergrund – eine Betrachtung, die dem Thema Bildung heute kaum noch gerecht und für Messe und Kongress zunehmend zum Problem wurde. Folgerichtig präsentierte sich die 18. Learntec, die vom 2. bis zum 4. Februar 2010 rund 5.600 Besucher nach Karlsruhe lockte, konzeptionell verändert. Sie nannte sich nicht mehr 'Fachmesse für Bildungs- und Informationstechnologie', sondern 'Leitmesse für Bildung, Lernen und IT'. Die Technik wurde des Platzes verwiesen, sie findet sich nur noch an dritter Stelle. Lernen, so die Botschaft, wird als Prozess begriffen, der technische, didaktische und inhaltliche Fragen untrennbar vereint. Ein Versuch, die zuletzt kränkelnde Bildungstechnikmesse neu zu positionieren.
Bildung statt E-LearningDass die Neuausrichtung ein Umdenken erfordert und einen Lernprozess zeigt, machte Keynote-Speaker Pieter de Vries von der Delft University unmissverständlich auf der Eröffnung klar: 'Wir haben Bildung bisher aus der Perspektive eines Froschs gesehen. Das war zu klein gedacht, zu phantasielos', so der Bildungsexperte aus den Niederlanden, dem diesjährigen Gastland der Learntec. Statt einer von Technik und Herstellerseite bestimmten Perspektive forderte de Vries ein neues, ganzheitliches Verständnis von Bildung ein, in dessen Zentrum der Anwender und menschliche Lernprozesse stehen sollen. Ein Anspruch, dem die Learntec gerecht zu werden versuchte. Zum Beispiel mit der Bildungsarena, einem kleinen Ausstellungsbereich mit Präsenzanbietern, platziert rund um das Bildungsforum, das das einstige Forum Training und Weiterbildung ersetzte und Themen wie Entwicklung der Weiterbildung, lebenslanges Lernen, Wissensgesellschaft eine Bühne gab. Auf dem Bildungsforum fand dann auch die Eröffnung statt. Diese zeigte ebenso wie der parallel zur Messe stattfindende Kongress Vorboten der Neupositionierung: Die dominierenden Begriffe lauteten 'informelles Lernen' und 'Wissensarbeiter'.
Berufsrelevantes Lernen geschieht oft informellEin Wissensarbeiter, so rechnete de Vries dem Eröffnungspublikum vor, hat nur rund 15 Prozent des benötigten Wissens im Kopf. Den Rest muss er lernen. 'Etwa 75 Prozent des berufsrelevanten Lernens geschehen informell', schätzte der Holländer. Die bisherigen E-Learning-Angebote, die sich noch weitgehend an Einzellernern und Schulanalogien orientierten, könnten dieses informelle Lernen aber nicht erfassen. Als Gegenmittel für diese Beschränktheit empfahl er, Web 2.0 für die Wissensvermittlung nutzbar zu machen: soziale, kollaborative Lernplattformen und user-generated content – ergänzt um eine Unternehmenskultur, die informelle Prozesse zulässt, aber auch zu steuern und qualitativ abzusichern lernt.
Auch die Podiumsdiskussion, die die Eröffnung mit der Fragestellung 'Verspielen wir unsere Bildungschancen?' abschloss, drehte sich um die notwendige Nutzbarmachung informeller Interaktion für die Weiterbildung. Für de Vries gehört dazu auch eine – noch zu findende – Form des Controllings, die es Einzelpersonen und Unternehmen ermöglicht, den Lerneffekt messbar zu machen. Ada Pellert, Präsidentin der Deutschen Universität für Weiterbildung, plädierte für eine Umdeutung des ihrer Ansicht nach negativ konnotierten Begriffs Lernen: 'Workbased Learning' bedeute eine selbstgesteuerte Weiterentwicklung von Kompetenzen, gestützt von einer 'Lifelong Guidance'. Richard Strauß von der European Learning Industry Group betonte die Notwendigkeit von Wissensmanagement angesichts veränderter Arbeitsformen.
Wissensarbeiter brauchen eine andere FührungWissensmanagement und Wissensarbeit – das waren auch die großen Themen im Kongress. Zum Beispiel bei Stefan Güldenberg: Der Professor an der Hochschule Liechtenstein machte deutlich, dass die Informations- und Organisationsstrukturen, die der Wissensarbeiter braucht, in der Praxis nicht gegeben sind. Daher seien Wissensarbeiter ineffizient. Seiner Beobachtung nach liegt das vor allem daran, dass Wissensarbeiter und die Organisationen, in denen sie arbeiten, nicht die gleichen Ziele verfolgen. Güldenberg verglich die Situation mit einer Fußballmannschaft, in der nur vier von elf Spielern wissen, wo das Tor steht – und sich nur zwei darum kümmern. Helfen könnten laut Kongress-Referent Martin Lindner Tools, die einen 'Informationsfluss' herstellen, statt wie das Medium E-Mail Arbeitsabläufe zu unterbrechen. In Social Software sieht der Experte für Micro-Learning Ansätze für eine mögliche Lösung. Statt über unflexible Input-Output-Medien einen 'Tunnelblick' zu entwickeln, sollten Wissensarbeiter Information auch aus der Peripherie verarbeiten und zirkulieren lassen. Entscheidender Faktor dabei ist laut Linder die Größe der Informationseinheiten. Diese müssten immer kleiner werden, um dafür zahlreicher und schneller verarbeitet werden zu können.
Lernen mit Twitter?Um kleinste Einheiten drehte sich auch der Track zum Microblogging. Die Frage war ebenso schlicht wie punktgenau: Lässt sich mit 140 Zeichen lernen? Die Antwort kam von Andrea Back: ein klares Ja. Die Professorin vom Institut für Wirtschaftsinformatik an der Uni St. Gallen hatte Twitter mit altbekannten Lernsituationen verglichen und fand schlagende Parallelen: 'Man wählt sich durch Follow seine Bürogemeinschaft, erhält seinen Readers-Digest mit Leseempfehlungen, kann dringende Fragen stellen, erhält Anerkennung, Ermunterung und Tadel und knüpft Karrierekontakte.'
Messeschwerpunkte: Spiele und DatenwolkenObwohl Kongress und Bildungsforum über technische Fragen hinausgingen, zeigte die Messe vor allem Bildungstechnik. Wichtigstes Thema: Cloud Computing bzw. Software-as-a-Service, das ua. von der imc AG stark promotet wurde. Dahinter verbergen sich zunehmend marktgängige IT-Infrastrukturen und Lizenzmodelle, die Rechenkraft und Software als Service zur Verfügung stellen. Unternehmen brauchen nicht mehr vollständige Lernsysteme zu kaufen, sondern können sie bedarfsgerecht mieten und über das Internet nutzen. Solche Modelle zielen vor allem auf mittelständische Abnehmer. Daneben setzten sich die Trends der vergangenen Jahre fort: Neben Serious Gaming und Simulationen waren auf der Messe vor allem interaktive und virtuelle Lerntechniken zu sehen.
Fazit: Ein erster ErfolgTrotz einiger Qualitätsschwankungen im Kongressprogramm und einem noch unausgegorenen Profil des Bildungsforums wie der Bildungsarena kann die 18. Learntec als Erfolg gelten. Die Besucherzahlen zumindest sind nach Jahren des Niedergangs erstmals wieder gestiegen, nach offiziellen Angaben um acht Prozent. Die Ausstellerzahlen setzten indes ihren Abwärtstrend fort: Nach 170 im vergangenen Jahr waren es dieses Jahr nur noch 160 – allerdings mit zur Messe zurückgekehrten Ausstellern wie SAP und Bridge2Think.
Bleibt die Frage, wie riskant die Umpositionierung ist, da viele Aussteller und Besucher doch ausschließlich wegen der Silbe 'tec' nach Karlsruhe kommen. Verwässert die Learntec ihr Profil? Oder schafft sie den richtigen Umschwung? Die Konkurrenz hat sich jedenfalls schon aufgestellt: Die Bildungsmesse didacta erweitert ihr Programm Richtung E-Learning. Und auch der Messeveranstalter spring Messe Management will diesen Markt weiter erobern – beide Veranstalter übrigens mit der gleichen prominenten Unterstützung: Hier wie dort beraten die Professoren Winfried Sommer und Uwe Beck, die beiden geistigen Väter der Learntec, die eben dieser nach 18 Jahren den Rücken kehren. Ihr Amt in Karlsruhe übernehmen Sünne Eichler, Bildungsberaterin und seit Jahren im Beirat von Messe und Kongress tätig, und Peter Henning, Professor für Informatik an der Hochschule Karlsruhe. Wie das neue Kongresskomitee die Learntec prägen wird und was sie damit für ein Gesicht bekommt, bleibt abzuwarten.