Wie bewältigen Unternehmen den demografischen Wandel? Und inwiefern greifen sie dabei auf bewährte und neue Tools aus der Management-Diagnostik zurück? Antworten auf diese Fragen lieferten Branchenriesen wie E.ON und MAN auf dem 3. Kienbaum-Expertendialog. Am 18. Januar 2007 stellten sie in Bonn ihre Konzepte vor.
'Wussten Sie, dass Johann Sebastian Bach nicht der Wunschkandidat für die Position des Thomaskantors war', überraschte Dr. Martin Kersting die Teilnehmer des 3. Kienbaum-Expertendialogs in der Bonner Beethovenhalle. Wie der Leiter des Kienbaum Instituts für Management Diagnostik verriet, war Bach sogar nur dritte Wahl: nach Georg Philipp Telemann, der seine Stelle in Hamburg wegen einer Gehaltserhöhung nicht aufgab, und nach Johann Christoph Graupner, dessen Arbeitgeber, der hessische Landgraf, ihn nicht ziehen ließ. So ergatterte Bach schließlich 1723 mit etwas Glück die Stelle als Kantor und Musikdirektor in Leipzig. Und wirkte bis zu seinem Tod - 27 Jahre später - mit großem Erfolg in diesem Amt.
Von der zweiten Wahl zum Topmitarbeiter
Mit dem Fall des berühmten Musikers und Komponisten wollte Kersting die anwesenden Personaler dazu anregen, die bisherigen Kriterien ihrer Bewerberselektion zu überdenken. 'Besonders in Zeiten des Fachkräftemangels ist es nicht sinnvoll, auf stereotype Anforderungen wie Fachrichtung und Kontinuität im Lebenslauf zu bestehen', meinte Kersting. Im Gegenteil: Personaler sollten auch einen Blick auf Bewerber mit unorthodoxen Qualifizierungen und Lebenswegen riskieren. 'Gut möglich, dass Sie in diesen Reihen auf Kandidaten stoßen, die sich wie Bach entgegen aller Erwartungen als goldrichtig erweisen', so der Diplom-Psychologe.
Nach Überzeugung des Tagungsveranstalters ist der Fokus auf vermeintliche B-Bewerber eine von vielen Möglichkeiten, die Personaler nutzen sollten, um dem demografischen Wandel erfolgreich zu begegnen. Nur wer rechtzeitig von unten Know-how aufbaue, könne langfristig bestehen, betonte Kersting. Und es bringt nichts, sich mit viel Mühe einen A-Kandidaten an Land zu ziehen, der bald darauf bei der Konkurrenz anheuert, so sein Credo.
Die Tools und Methoden, die auf dem Expertendialog zum Thema Mitarbeiterfindung und -bindung vorgestellt wurden, boten ansonsten jedoch wenig Überraschung. 'Diagnostik in Zeiten des demografischen Wandels' - so das Tagungsmotto - sieht nicht viel anders aus als Diagnostik generell. Der einzige Unterschied: Die Unternehmen sind sich angesichts der alternden Belegschaften und des mangelnden Nachwuchses im Klaren, dass systematische Potenzialerhebungen sowie Bewerber- und Förderprogramme eine noch höhere Bedeutung haben als bislang.
Enstprechend verstärken sie ihre Aktivitäten. Zumindest gilt das für die Unternehmen, die am 18. Januar 2007 Einblick in ihr HR-Management gaben. So zum Beispiel E.ON: Detlef Hartmann, verantwortlich für die Personalentwicklung des Energiegiganten, packte die demografische Entwicklung in konkrete Zahlen: Das Durchschnittsalter der Ingenieure bei E.ON beträgt mehr als 40 Jahre. Über 23 Prozent der Ingenieure sind älter als 50 Jahre, keine zehn Prozent sind jünger als 30 Jahre. Für den Konzern, der weltweit rund 80.000 Mitarbeiter beschäftigt, sind das alarmierende Statistiken.
Der Fachkräftemangel verhindert weitere Expansionen
Denn sie zeigen, dass viele erfahrene Projektmanager in den nächsten Jahren von Bord gehen. Und mit ihnen geht das technische Know-how, das benötigt wird, um die geplanten 'Neubauprojekte' zu realisieren. 'Für die Umsetzung der Wachstumspläne müssen wir allein in Deutschland in den nächsten Jahren bis zu 500 Ingenieurspositionen besetzen', so Hartmann. Gelingt das nicht, wird E.ON Schwierigkeiten haben, zu expandieren.
Ermittelt wurde die Zahl in einem so genannte Management Review Prozess, ein diagnostisches Verfahren, das die aktuelle Nachwuchssituation im Management bestimmt. Mit dem Verfahren sichtet E.ON das konzernweite Potenzial: Welche Mitarbeiter haben das Zeug zum Senior Manager, und wer aus dem Senior-Manager-Pool schafft den Sprung in die Vorstandsebene? Zum Einsatz kommen im Prozess klassische Auswahlverfahren wie Assessment Center und Management Audit. 'Die Verfahren sind nicht neu, doch wir haben erkannt, dass wir sie früher und systematischer einsetzen müssen, um die Kompetenz im Unternehmen zu sichern', bekannte Hartmann. Bislang habe der Global Player in diese Richtung zu wenig unternommen.
Personalmarketing soll den War for Talents entscheiden
Eine Stufe vorher, nämlich schon beim Hochschulmarketing, setzt der Nutzfahrzeughersteller MAN an. Das muss er, denn die Konkurrenten sind stark: 'Firmen wie BMW und Porsche werben die Mitarbeiter quasi an den Toren zur Werkshalle ab', beschrieb Thorsten Bittlingmaier die Wettbewerbssituation. Deshalb habe sich der Konzern bemüht, seinen Platz im Ranking der attraktivsten Arbeitgeber bei deutschen Studenten zu verbessern. Mit einem speziell geschulten Team, das MAN auf Hochschulmessen repräsentiert, schaffte das Unternehmen innerhalb von zwei Jahren den Sprung von Platz 33 auf Platz 15. 'Dass MAN sein Image verbessern konnte, zeigt die Qualität der Bewerbungen, die jetzt bei uns eingehen', veranschaulichte der Leiter für Managemententwicklung.
Ist der Liebling vom Chef ein Potenzialträger?
Aber nicht nur das externe Recruiting wurde optimiert: Für die bereits bei MAN tätigen Mitarbeiter hat die Personalabteilung einen systematischen Prozess der Potenzialeinschätzung eingeführt. Denn Befragungen von Vorgesetzten hatten eklatante Fehlprognosen ans Tageslicht gebracht: Als Potenzialträger identifizierten Führungskräfte nämlich diejenigen Mitarbeiter, die strikt den Weisungen der Chefs folgten und viele Überstunden machten. Nachgefragt, ob diese Mitarbeiter auch den Job ihres Vorgesetzten übernehmen könnten, antworteten die jeweiligen Vorgesetzten mit einem entrüsteten 'Nein'.
Wer das Potenzial zur Führungskraft hat, entscheidet deshalb nicht mehr nur der direkte Vorgesetzte. Einfluss auf die Entscheidung haben auch eine Selbsteinschätzung des Mitarbeiters sowie die Sichtweisen von übergeordneten Führungskräften, Kollegen und Personalentscheidern. Wer in den Kreis der Potenzialträger aufgenommen wird, nimmt an einem Assessment Center teil und hat somit die Chance, die nächste Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen.
Mitarbeiter mit Know-how sind das Rückgrat des Unternehmens
Weniger auf Recruiting, sondern mehr auf Retention, setzt das Technologieunternehmen EDAG, um nicht in naher Zukunft ohne qualifizierte Mitarbeiter dazustehen. 'Wir bauen auf Mitarbeiter zwischen 35 und 40 Jahren mit fachlichem Know-how und menschlicher Reife', sagte Dr. Udo Hülz, Mitglied der Geschäftsleitung. 'Sie sind das Rückgrat im Unternehmen, und sie wollen wir halten.' Damit die Mitarbeiter bleiben, hat EDAG eine breite Maßnahmenpalette zusammengestellt: Sie reicht von variablen Bonifizierungen über die Unterstützung von Mitarbeitern mit Kindern bis hin zur Imagesteigerung des Unternehmens.
Zudem möchte EDAG auch Heimat für diejenigen Ingenieure sein, die eine Karriere ohne Führungsverantwortung anstreben, z.B. als Projektmanager oder Experten für ein bestimmtes Gebiet. 'Eine Karriere wie diese kann klappen, wenn die fachlichen wie überfachlichen Qualifikationen, die Potenziale und Wünsche der Mitarbeiter regelmäßig diagnostiziert und dokumentiert werden', erläuterte Hüls. Die Diagnostik ermögliche es nämlich, differenzierte Laufbahnmodelle zu entwickeln. Mit dem Resultat, dass Mitarbeiter ihre beruflichen wie privaten Ziele bei EDAG verwirklichen können und nicht zur Konkurrenz überlaufen. Dass das Rad der Management-Diagnostik trotz demografischer Entwicklung nicht neu erfunden werden muss, verdeutlichte auch Hüls: 'Für uns bedeutet der demografische Wandel keine Veränderung, sondern eine Verstärkung der bisherigen HR-Aktivitäten', meinte der Leiter Personal und Recht.
Die demografische Entwicklung ist kein Drama
Der Blick auf die Personalentwicklungspraxis bei E.ON, EDAG und MAN zeigt: Unternehmen sind sich bewusst, welche Risiken für sie aus dem demografischen Wandel erwachsen können. Doch: Ein Allheilmittel gibt es nicht. Jedes Unternehmen muss seinen individuellen Weg finden. Weil E.ON, EDAG und MAN die Brisanz erkannt und erste Schritte in die richtige Richtung unternommen haben, zählen sie in den Augen von Dr. Walter Jochmann zu den Gewinnern der demografischen Entwicklung. 'Unternehmen müssen die Entwicklung nicht dramatisieren, aber ernst nehmen', so der Vorsitzende der Kienbaum-Geschäftsführung.