'Weiterbildung soll zur vierten Säule des Bildungssystems werden' - das hat sich die Bundesregierung in den Koalitionsvertrag geschrieben. Doch wie weit ist sie 2006 mit ihrem Vorhaben gekommen? Und in welchen Bereichen besteht noch Nachholbedarf? Training aktuell hat nachgefragt.
Jan Figel, Bildungskommissar der Europäischen Kommission (EU), Brüssel:
'Deutschland hat sich 2006 in sehr aktiver Art und Weise an den Arbeiten zur Entwicklung eines Europäischen Qualifikationsrahmens und eines Europäischen Leistungspunktesystems für die berufliche Bildung beteiligt. Im Hinblick auf die Teilnahme von Erwachsenen am lebensbegleitenden Lernen schneidet Deutschland im europäischen Vergleich aber nicht sonderlich gut ab. Ein stärkeres Engagement in diesem Bereich scheint unumgänglich. Ich hoffe, dass es Deutschland während der EU-Ratspräsidentschaft gelingen wird, eine politische Einigung über die Empfehlung zum Europäischen Qualifikationsrahmen zu erreichen, und Impulse zur Entwicklung des europäischen Leistungspunktesystems zu geben.'
Gerhard Reutter, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Experte für die berufliche Bildung am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE), Bonn:
'2006 war das Jahr neuer bildungspolitischer Initiativen, weniger das Jahr der Aktion. So hat die Bundesbildungsministerin Dr. Annette Schavan den 'Innovationskreis berufliche Bildung' und den 'Innovationskreis Weiterbildung' einberufen. Von beiden können wichtige Weichenstellungen für das kommende Jahr erwarten werden. Ein Richtungswechsel in der Politik ist insbesondere in der beruflichen Weiterbildung für Arbeitslose notwendig. Der Verzicht auf längerfristige berufliche Weiterbildung und die Konzentration auf die so genannten arbeitsmarktnahen Arbeitslosen verfestigt die Problematik der Langzeitarbeitslosigkeit.'
Manfred Kremer, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Bonn:
'Die Bundesagentur für Arbeit hat in den vergangenen Jahren ihre Mittel für die berufliche Weiterbildung drastisch gekürzt. Hier wünsche ich mir eine Kehrtwende, die mit einer wieder stärkeren Beteiligung der Risikogruppen an Qualifizierung und Weiterbildung einhergehen sollte. Außerdem muss diePolitik muss noch deutlicher machen, dass die Zukunft Deutschlands auch von einer qualifizierten beruflichen Aus- und Weiterbildung abhängt und entsprechend handeln. Unter anderem sind mehr berufliche Weiterbildungswege notwendig, die den Bachelor- und Master-Studiengängen gleichwertig sind, um die notwendige breite Höherqualifizierung zu ermöglichen, die Wirtschaft, Gesellschaft und Individuen dringend brauchen.'
Lutz Bellmann, Bereichsleiter Betriebe und Beschäftigung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg:
'Positiv bewerten wir ein Projekt: Die Bundesregierung hat ein neues Programm aufgelegt, um jungen Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung eine zweite Chance zu geben. Dabei werden individuelle und flexible Qualifizierungswege eröffnet, die beschäftigungsbegleitend einen Berufsabschluss ermöglichen. Zusätzliche Angebote in der beruflichen Weiterbildung sind jedoch für kleine und mittelständische Unternehmen erforderlich. Laut IAB-Betriebspanel 2005, einer Befragung bei über 16.000 Betrieben, ist die Weiterbildungsbeteiligung bei Betrieben mit bis zu vier Mitarbeitern mit 17 Prozent am niedrigsten. Hier muss sich etwas tun.'
Ulrich Aengenvoort, Verbandsdirektor, Deutscher Volkshochschul-Verband e.V. (dvv), Bonn:
'Obwohl wir aus vielen Studien wissen, dass qualifizierte Arbeitnehmer seltener arbeitslos werden als unqualifizierte, hat die Umsetzung der Arbeitsmarktreformen durch die Bundesagentur für Arbeit zu einem dramatischen Niedergang der geförderten beruflichen Weiterbildung geführt. Zugleich sind die Anbieter einem nicht hinnehmbaren Preiswettbewerb ausgesetzt, der zu Lasten der Qualität der Weiterbildungsangebote gehen muss. Wenn die Bundesregierung die Aussagen des Koalitionsvertrages ernst meint, muss sie in diesem Sektor umsteuern. Berufliche Weiterbildung muss wieder einen herausgehobenen Stellenwert im Rahmen einer aktiven und präventiven Arbeitsmarktpolitik einnehmen.'
Renate Richter, Präsidentin Dachverband der Weiterbildungsorganisationen e.V. (DVWO), Diekholzen, und Präsidentin European Training and Development Federation (ETDF), Paris:
'Die kürzlich veröffentlichte Ein-Jahres- Bilanz des Bildungsministeriums bestätigt die Wahrnehmung des Jahres 2006: In der beruflichen Weiterbildung wurden von der Bundesregierung keine Impulse gesetzt. In Deutschland bestehen in den unterschiedlichen Weiter-/Erwachsenenbildner-Organisationen exzellente und über Jahrzehnte gewachsene praxisnahe Erfahrungen, Erfolge und Qualitätssicherungssysteme. Die Bundesregierung muss an der Anerkennung der Kompetenzen von Bildungspersonal/Lehrkräften in der Erwachsenenbildung mitwirken und diese Gruppe als gleichberechtigte Gesprächspartner in die Gestaltung des zukünftigen Aktionsplans für Lebenslanges Lernen einbeziehen. In Zukunft muss Erwachsenenbildung/berufliche Weiterbildung mehr strategische Priorität, mehr Außenwirkung und mehr Ressourcen erhalten.'
Dr. Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Berlin:
'Berufliche Weiterbildung ist eine Investition in die Zukunft. Dies gilt für die Unternehmen, denn nur qualifizierte Mitarbeiter sichern deren Wettbewerbsfähigkeit. Dies gilt aber auch für jeden einzelnen, denn nur wer weiter lernt, sichert sich berufliche Chancen und erhält seine Beschäftigungsfähigkeit. Die Politik muss die richtigen Rahmenbedingungen schaffen: durch eine wachstums- und beschäftigungsfördernde Wirtschaftspolitik, ein hochwertiges und durchlässiges Bildungssystem, das die Lernbereitschaft von Anfang an fördert, sowie flankierende Angebote beispielsweise in der Qualifizierungsberatung. Regulierende Eingriffe und die Schaffung pauschaler Ansprüche sind dagegen kontraproduktiv, da sie am individuellen Bedarf vorbeigehen.'
Andreas Storm, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Berlin:
'Nur durch eine kontinuierliche, das ganze Arbeitsleben begleitende Weiterbildung können wir die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen bis zum Rentenalter sichern und zugleich die Produktivität und Innovationsfähigkeit unseres Landes erhalten. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung verfolgt daher ein Gesamtkonzept für das lebenslange Lernen und hat den 'Innovationskreis Weiterbildung' einberufen, um innovative Ansätze in der Weiterbildung zu entwickeln. Dazu gehört, dass wir über neue Wege zur Finanzierung der beruflichen Weiterbildung nachdenken, die Grundbildung von Erwachsenen zu einem Schwerpunkt unserer Förderung machen und gezielt ältere Arbeitnehmer in den Blick nehmen, um die berufliche Weiterbildung gerade in der zweiten Hälfte des Erwerbslebens auszubauen.'