Stefan Wachtel in Speakers Corner
Stefan Wachtel in Speakers Corner

„Es gibt keine Naturtalente“

Menschen, die Hervorragendes leisten, werden oft als Naturtalente angesehen. Was für ein Blödsinn, hält Stefan Wachtel, ​Coach und Trainer für Executive-Rhetorik, dem entgegen. Naturtalente existieren nicht. Exzellente Leistungen sind vielmehr das Resultat disziplinierter Anstrengung.

Barack Obama gilt als Lichtgestalt der Rhetorik und wird dafür in Büchern besungen – „Say it like Obama!“ Ist Barack Obama ein Naturtalent? Natürlich nicht. Seine Wirkung ist durch und durch inszeniert. „Barack war fast zwei Monate nicht hier. Ich habe ihn gestern oder vorgestern gesehen. Hören Sie sich das an: Er wird wieder langsätzig; er muss wieder zum Training kommen!“ Das erzählte mir einmal die Marketingchefin eines Auftrittscoaches der Demokraten in Washington – einfach so. Woher diese Offenheit? Weil man in den USA weiß, dass man Performance nur mit ständigem Training aufrechterhält. Obama ist ein Intellektueller, ein Jurist, ein Mann voller Komplexität. Aber von Natur aus ein exzellenter Redner? Eher nicht.

Wir können das Spiel mit anderen Lichtgestalten des Auftritts weiterspielen. War zum Beispiel Steve Jobs für die Rednerbühne geboren? Zum Menschen-Begeistern gemacht? Natürlich nicht! Jobs war, das ist aus vielen Quellen bekannt, ein rechthaberischer Nerd, unkommunikativ, cholerisch, ungerecht. Für andere hatte er kaum ein freundliches Wort – und dementsprechend kaum Freunde. Steve-Jobs-Auftritte hingegen waren grandiose Shows, nicht nur Monologe – die sie gewesen wären, wäre er pur authentisch gewesen. Sie waren durchsetzt mit Zugangs- und Wertschätzungsformeln, mit „wir“ und „Sie alle hier“. Hatte Steve Jobs Talent zur Kommunikation? War er ein rhetorisches Naturtalent? Sicherlich nicht. Seine Auftritte waren das Ergebnis ständigen Lernens.

Meine Klienten fragen mich als Auftrittscoach immer wieder, ob dieser oder jener ein Naturtalent sei. Dabei verstehen sie unter Naturtalent einen gottgleichen Zustand: Da tut jemand etwas, ohne sich dafür auch nur ansatzweise ins Zeug legen zu müssen, völlig anstrengungslos. Weil ihm das in die Wiege gelegt wurde. Die Zwillingsforschung hat uns jedoch längst gezeigt, dass die Gene zu kaum mehr als 20 Prozent für unser Handeln verantwortlich sind. 20 Prozent – das ist in etwa auch die Zahl, die ich mir vorstelle, wenn ich nach Talent gefragt werde. „Können Sie denn aus Dr. X etwas machen, er ist doch so untalentiert?“ Dieser Dr. X ist wenig später oft derselbe, der Finanzanalysten das Berichtsjahr so eindrucksvoll erklärt, dass der Aktienkurs steigt oder wenigstens stabil bleibt. Talentiert oder nicht?

Das Englische unterscheidet im Gegensatz zum Deutschen übrigens fein zwischen „Talent“ und „Capability“: Talent ist gesetzt, Capabilities werden erlernt. Das Erstere ist nur ein kleiner Teil, und der wird in einer Karriere auch noch gegenüber anderen Faktoren beständig unwichtiger – beispielsweise gegenüber Motivation und Ambition. Wer etwas will, tut den ersten Schritt. Wer etwas will, kümmert sich um den Weg dorthin, weniger um die Hemmnisse. Ein ambitionierter Plan und die Motivation, etwas zu erreichen, machen einen sehr großen Teil des Erfolgs aus – größer, als wir oft denken.

Unterschätzt wird auch die Rolle, die solide, begründete Methoden dabei spielen, dass Menschen in vielen Feldern eine gute Performance erreichen können – auch weniger talentierte. Bei Auftritten etwa besteht die Kunst darin, Inhalt und Form zu verzahnen, den Inhalt modular zu gestalten und dann die Module auf einen Punkt hin nach Art einer „Reversed Pyramid“ zu pointieren, um Spannung zu erzeugen. Ich nenne diese Technik das „Zielsatz-Prinzip“.

Auch das Mindset ist entscheidend, beziehungsweise das Gefühl, im richtigen Film zu sein. Wir alle kennen das, sich im falschen Film zu fühlen – mal ab und zu, mal dauerhaft. Wer exzellent performen will, darf daraus keinen Dauerzustand werden lassen, sondern sollte darauf achten, dass Persönlichkeit, Werte, Motive und, ja, auch Kompetenzen und Talent zur Aufgabe passen.

Existenziell ist das Training. Unter den sehr Erfolgreichen findet sich nach dem Bestsellerautor Malcolm Gladwell kaum jemand ohne 10.000 Stunden Übung. Doch Training scheint nicht mehr in Mode zu sein, ablesbar am Abstieg des Trainerbegriffs: In den 1990er-Jahren wollte noch jeder „Trainer“ sein. Aber seit Jahren sinkt die Reputation dieses Berufes beständig. Inzwischen ist alles „Coaching“. Profanes Exerzieren kommt in vielen Konzepten gar nicht mehr vor. Einüben scheint nicht mehr gewünscht zu sein, es hat keinen Glanz. Ein Trainer ist altmodisch, ein Coach ist en vogue.

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Aber es gibt auch schon einen Gegenpol zum Trend: Der Trainer ist inzwischen zum Gegenstand moderner Philosophie geworden. Peter Sloterdijk hat das in „Du musst dein Leben ändern“ in ein anthropologisches Modell eingefügt: der Mensch als Übender. Unter Übung versteht Sloterdijk „jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht“. Dahinter steht eine jahrtausendealte Einsicht: Alle religiöse Praxis ist ohne Exerzitien nicht vollständig. Was gedacht wurde, muss auch tatsächlich gemacht werden. In Sloterdijks „allgemeiner Disziplinik“ sind die Trainer als die Agenten dieser Übungstätigkeit nicht abgewertet.

Hinter der Idee vom „Naturtalent“ steckt ein – deutsches – Klischee: Talent ist Natur. Lernen dagegen entfernt uns von der Natur. Das liefert nicht wenigen einen Grund, eben nicht lernen, keinen Rat annehmen, nicht an sich arbeiten zu müssen. Wird jemand von anderen als Naturtalent bezeichnet, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass er noch dazulernt. Wir können das gut bei Senior Spitzenmanagern beobachten, die noch gut laufende Vorstandsverträge haben. Mit steigender Klasse sinkt die Qualität des Feedbacks, das diese bekommen. Statt echter Rückmeldungen wird den Spitzenmanagern fast nur noch Lobhudelei zuteil. So entsteht bei manchem der Eindruck, ein Naturtalent zu sein und nichts mehr dazulernen zu müssen.

Natürlich haben viele Executives im Verlauf ihrer Karriere viel gelernt. Anderenfalls wären sie nicht dort angekommen, wo sie sind. Aber eben nur bis zu diesem einen Punkt – einer Art X-Punkt mit zwei Linien: Die Linie der Vergütung steigt, die des Lernens sinkt. Selbst manche, die vorher zu den Besten gehörten, hören an diesem Punkt oft auf, richtig gut zu sein. Manche sagen, irgendwann landen dort alle. Ich meine: Bei den richtig Guten bricht das Lernen nie ab. Und übrigens: Nach meiner Erfahrung ist der Lernabbruch bei weiblichen Spitzenkräften deutlich seltener. Ich kenne keine, die Lernen ablehnt – und ich habe mit einigen prominenten Führungsfrauen gearbeitet.

Mit nichts oder fast nichts, so suggeriert es die Mär vom Naturtalent, gelingt Erfolg, gelingt beispielsweise Führungswirkung. Dabei werden die – nicht selten auch noch selbst deklarierten – „Naturtalente“ ihren Aufgaben oft nicht so gut gerecht wie die weniger (Natur-)Talentierten, die aber beständig an sich arbeiten. Ich sage nicht, dass es komplett ohne Begabung geht. Aber das ist eben nur eine kleine Zutat – die erst verarbeitet mit vielen anderen Faktoren zu einer exzellenten Gesamtleistung führt.

Und diese anderen Zutaten sind eben nicht nur das, was Menschen mitbringen. Es geht erstens um ein Mindset, mit dem man sich in einen Zustand versetzt, der andere denken und sagen lässt: „Naturtalent!“. Wir müssen in einen Wirkungsmodus kommen. Wenn es dann sehr nach Naturtalent riecht, kann man das „Executive Modus“ nennen. Und zweitens muss auch das Umfeld stimmig sein, im Sinne guter Vorbereitung. Vor jedem Auftritt und jedem Statement etwa braucht es einen guten Plan, gute Notizen, gute Struktur, kurz gesagt: Inhalt. Und zwar Inhalt vor Form; Körpersprache oder andere Bausteine der Peripherie genügen nicht. Und dann eben Wiederholung und Training. Im alten Testament heißt es: „Und wenn es gut gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Alle vermeintlichen „Naturtalente“ haben es so gehalten. Wer etwa den frisch gewählten CDU-Chef auf dem Parteitag gesehen hat, wie der die Story von der Bergmannsmarke seines Vaters erzählt hat: ganz groß! Voll inszeniert, einstudiert („Ich bin vielleicht nicht ein Mann der perfekten Inszenierung, aber ich bin Armin Laschet“), und gerade deshalb war es gut. Und Laschet ist ganz sicher kein Naturtalent.

Dr. Stefan Wachtel ...

Dr. Stefan Wachtel ...

... ist Sprechwissenschaftler, Coach und Trainer für Executive-Rhetorik. Er wurde als einer der „Leading Coaches of the World“ zertifiziert. Zuletzt erschien sein Buch „Das Zielsatz Prinzip“. Kontakt: www.stefan-wachtel.de 

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