Schlauer lernen
Schlauer lernen

Nur wer weglässt, kann gewinnen

Henning Beck erklärt, warum Stützräder abgeschafft wurden und warum auch beim Lernen gilt: weglassen statt hinzufügen.

Meine Nichte lernt in Kürze das Fahrradfahren. Sie wird das allerdings anders tun als ich damals vor über drei Jahrzehnten. Ich saß zunächst jahrelang auf einem eigentlich viel zu großen Fahrrad, das glücklicherweise mit Stützrädern gegen das Umkippen gesichert war. Doch die Stützräder verschlimmbesserten nur meine Fahrkünste und schulten gerade nicht meinen Gleichgewichtssinn. Als sie abgeschraubt wurden, fiel ich um, als säße ich das erste Mal auf einem Rad. Fünf Jahre Stützräder waren schlagartig für die Katz.

Schauen Sie sich heute in einer Spielstraße um, wird Ihnen auffallen: Stützräder gibt’s keine mehr. Stattdessen lernen die Kleinen auf winzigen Laufrädern, wie man auf zwei Rädern balanciert – und auch meine Nicht wird nicht den Fehler machen, mit falschen Hilfestellungen langsamer zu lernen. Denn weniger ist mehr.

Was auf den zweiten Blick naheliegend erscheint (nämlich Überflüssiges wegzulassen, weil es den Lernprozess nur behindert), ist auf den ersten Blick gar nicht so eindeutig. Im Gegenteil: In diesem Jahr wurde erstmals das psychologische Phänomen des „Additions-Fehlschlusses“ beschrieben. Sollen Menschen nämlich Probleme lösen, so tendieren sie dazu, etwas hinzuzufügen, statt etwas zu entfernen. Sollen in Laborexperimenten beispielsweise nicht symmetrische Bilder zur Symmetrie gebracht werden, ergänzen Probanden fehlende Teile, obwohl das aufwendiger ist, als einfach überflüssige Teile wegzunehmen. Selbst wenn man den Teilnehmenden vorher sagte, dass sie auch Objekte ganz einfach entfernen könnten, blieben vierzig Prozent bei der aufwendigeren Lösung des Ergänzens.

Unsere Denkmuster sind offensichtlich besonders hartnäckig, und wir suchen zunächst nach einer zusätzlichen Lösung – so vernachlässigen wir das Reduzieren auf das Wesentliche. Kein Wunder, dass alles in unserem Leben eskaliert: ob es bürokratische Vorschriften oder Projektplanungen sind, E-Mail-Kommunikationen oder der eigene Terminkalender. So überfüllt man sich sein eigenes Leben mit Lösungen, bis man am Ende wiederum ineffizient und überfordert ist. Als Lösung fügt man dann wiederum eine Effizienz-App auf sein Smartphone hinzu, statt die Komplexität seiner Arbeitsabläufe zu reduzieren. Willkommen im Teufelskreis.

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Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir darauf trainiert werden, Einsatzbereitschaft und Aktion zu zeigen, um Probleme zu lösen. Mit einem eigenen Beitrag markiert man gewissermaßen seine Leistung und verschafft sich dadurch Status und Prestige. So werden Arbeitsprozesse jedoch irgendwann übersteuert. Auch kognitiv können wir irgendwann nicht mehr mithalten. Gerade wenn es darum geht, sich auf Aufgaben zu konzentrieren oder Dinge zu lernen, führen zu viele Informationen dazu, dass das Gehirn immer mehr damit beschäftigt ist, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, bis man am Ende gar nichts mehr weiß. Auch in vielen Bildungsformaten setzt man Menschen häufig zu viele Informationen vor; wer kennt beispielsweise nicht die überfüllten Skripte nach Seminaren oder Workshops, die sich niemand durchliest? Schlimmer noch: Sie verschlechtern unseren Lernerfolg, denn wir werden von zu vielen Informationen überfordert und trainieren uns ab, Aufgaben auf eine einfache Art zu lösen.

Wenn Sie deswegen vor dem nächsten Problem stehen, fangen Sie nicht an, nach einer zusätzlichen Lösung zu suchen. Fragen Sie sich, was Sie stattdessen wegnehmen könnten, um voranzukommen. Was sind wohl Ihre Stützräder im Leben, die Sie nur im Vorankommen aufhalten?

Der Autor: Henning Beck ist Neurowissenschaftler, und zwar einer der verständlichen. In Vorträgen und Seminaren vermittelt er die spannenden Themen des Gehirns. Sein aktuelles Buch heißt „Das neue Lernen heißt Verstehen“. Kontakt:  www.henning-beck.com

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