Unternehmen wählen Bewerber nach standardisierten Schemata aus, lassen potenzielle Mitarbeitergruppen links liegen, setzen insgesamt auf eine zu homogene Mannschaft – und haben dadurch wirtschaftliche Nachteile. Diese Kritik übte Prof. Dr. Martin Kersting auf dem 12. Deutschen Personalberatertag Anfang Mai in Bonn. Im Interview mit manage_HR erläutert der Recruiting-Experte, warum Unternehmen in Sachen Personalauswahl umdenken und ihre Anforderungsprofile auf den Prüfstand stellen soll.
Herr Kersting, 'Manager statt MBAs – Persönlichkeiten statt Fachkräfte' lautete der Titel Ihres Vortrags zur Personalauswahl auf dem Deutschen Personalberatertag. Welche Aussage steckt hinter diesen Worten?Prof. Dr. Martin Kersting: Wir werden in Zukunft einen großen Personalmangel erleiden. Die Personalgewinnung wird zunehmend der Flaschenhals zum Unternehmenserfolg. Die logische Konsequenz ist, dass die Personaler nicht alle in demselben Teich der High Potentials fischen können. Sie müssen auch nach anderen Gruppen Ausschau halten.
Welche Personengruppe meinen Sie?Kersting: Es gibt HR-Potenzial, das bislang gar nicht erschlossen ist. So arbeiten rund 70 Prozent der 55- bis 64-Jährigen nicht mehr, obwohl diese Personen zum Teil hervorragend qualifiziert sind. Außerdem sind Frauen in Deutschland seltener in Führungspositionen tätig als im EU-Durchschnitt. Und jene Frauen, die in Führungspositionen sind, sind überdurchschnittlich häufig kinderlos. Aus HR-Perspektive ist das deshalb interessant, weil die größte Zahl der Frauen Kinder hat. Das heißt: Wenn ich die Gruppe der Frauen für Führungstätigkeiten erschließen will, kann ich mich nicht auf die kleine Subgruppe jener Frauen beschränken, die keine Kinder haben. Die dritte vernachlässigte Gruppe sind die rund 15 Millionen Ausländer und Deutsche mit Migrationshintergrund. Sie stellen 19 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik, kommen in hoch qualifizierten Positionen in Organisationen aber kaum vor.
Das klingt danach, dass das Thema Diversity Management in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen wird ...Kersting: Ja, aber dies nicht zwangsläufig allein aus dem Grund, dass die Unternehmen nicht mehr genügend MBA-Absolventen rekrutieren können. Diversity ist auch aus ökonomischer Perspektive gut für ein Unternehmen. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sich die Firmen nicht mehr dem Markt anpassen können, wenn ihre Belegschaft zu homogen ist. Warum z.B. haben die deutschen Premiumhersteller im Automobilmarkt nicht mitbekommen, dass sich die Einstellungen ihrer Kunden gegenüber Autos verändert haben? Warum ist ihnen entgangen, dass Autos nicht mehr ein Statussymbol sind und dass schwere Limousinen mit einem hohen Spritverbrauch nicht mehr gefragt sind? Meine These: Die Automobilunternehmen haben eine Belegschaft, die die Gesellschaft nicht widerspiegelt – lauter junge Ingenieure mit Benzin im Blut. Die haben alle eine Tankkarte und bekommen einen Dienstwagen, die Tankkosten werden von der Firma übernommen etc. Diese Mitarbeiter sehen gar nicht, was in der Gesellschaft passiert und können daher auch nicht mehr kundenorientiert agieren.
Was sollten Unternehmen tun, um solchen Situationen entgegenzuwirken und personelle Vielfalt im Unternehmen zu fördern?Kersting: Die Unternehmen müssen sich breiter aufstellen und ihre Kompetenz- bzw. Anforderungsprofile überdenken. Denn diese Profile fördern bislang die schematische Selektion, der zufolge nur solche Kandidaten gesucht werden, die jung, hoch qualifiziert und nach Möglichkeit männlich sind, die formale Qualifikationen im Bereich Wirtschaft, Finanzen oder Jura mitbringen und bevorzugt einen MBA oder eine Promotion vorweisen können. Menschen, die nicht in dieses Schema passen, die vielleicht Brüche im Lebenslauf haben, werden in der Regel beim Sichten der Bewerbungsunterlagen aussortiert. Dabei kann es durchaus besser sein, eine der Monikas aus Villingen-Schwenningen mit FH-Abschluss einzustellen, als sich von den Simons mit MBA aus Princeton Absagen einzuholen. Allerdings ist eine derart veränderte Personalauswahl auch mit höherem diagnostischem Aufwand verbunden. Denn in diesen anderen Teichen schwimmen nicht nur Goldfische, sondern auch Kandidaten, die nicht passen.
Inwiefern muss sich die Diagnostik ändern?Kersting: Die Diagnostik muss besser bzw. reichhaltiger werden. Es reicht nicht aus, sich bei der Personalauswahl auf ein unstrukturiertes Vorstellungsgespräch zu beschränken, bei dem in der Regel lediglich Vorannahmen bestätigt werden und der Personaler nur wenige Informationen über den Kandidaten erhält. Genauso wie ein Arzt eine Diagnose auf Fakten und Informationen stützt – etwa durch die Bestimmung des Blutbildes –, benötigt man für die Personalauswahl ausreichend Material, um seine Vorannahmen in Frage zu stellen. So sollten verschiedene diagnostische Verfahren zum Einsatz kommen – neben dem Vorstellungsgespräch beispielsweise auch Testverfahren wie Leistungstests, Persönlichkeitsfragebogen, Rollenspiele und Gruppendiskussionen. Häufig ist dann Folgendes zu beobachten: Meint man nach dem Vorstellungsinterview noch zu wissen, der Müller ist es, der Meier ist es nicht, dreht sich die Meinung z.B. nach einem Rollenspiel plötzlich komplett um, weil etwa deutlich wird, dass der Meier - entgegen der ursprünglich stereotypen Vorannahmen – durchaus in der Lage ist, ein schwieriges Mitarbeitergespräch zu führen.
Ob des Fachkräftemangels können sich qualifizierte Bewerber inzwischen quasi aussuchen, bei welchem Unternehmen sie arbeiten wollen. Besteht nicht die Gefahr, dass diese Kandidaten Unternehmen meiden, bei denen sie aufwendige Selektionsprozesse in Kauf nehmen müssen?Kersting: Die Akzeptanz von Personalbeurteilungen und Personalauswahlverfahren ist in der Tat ein wichtiges Thema. Die Personalauswahl muss daher so gestaltet werden, dass sie auf Augenhöhe stattfindet, dass die Kandidaten Wertschätzung erfahren. Das bedeutet aber nicht, dass man sie nicht auf Herz und Nieren prüfen darf. Die Annahme, dass nur Kuschelverfahren positiv gewertet werden, ist ein Irrglaube. Bewerber wissen sehr wohl zu schätzen, wenn ein Unternehmen objektive Verfahren einsetzt. Untersuchungen zeigen, dass z.B. Tests zur kognitiven Kompetenz von den Bewerbern als kontrollierte Situationen geschätzt und gewürdigt werden. Außerdem suchen leistungsmotivierte Menschen – und die wollen die Unternehmen ja haben – Herausforderungen.