Dass der Fortschritt einen kontinuierlichen Fluss fortwährender Verbesserung, Erweiterung und Erneuerung des Wissens darstellt, ist eine gängige Vorstellung. Dennoch ist sie falsch: Manchmal kommt es zu regelrechten Erkenntnis-Revolutionen, die alles über den Haufen werfen, was zuvor gegolten hat. Wissen, das in mühsamer Kleinarbeit über eine lange Zeit zusammengetragen und entwickelt wurde, ist dann auf einen Schlag obsolet. Es kommt zu Brüchen und Abbrüchen: Theorien, die gestern noch ganze Welten zusammenhielten, sind morgen vielleicht schon nicht mehr zu gebrauchen, um wenig später in völlige Vergessenheit zu geraten und bestenfalls noch Kopfschütteln auszulösen, dass dergleichen mal für wahr und vernünftig gehalten wurde.
Fortschritt im Denken und Wissen ist also nicht stetig, sondern oft sprunghaft, widersprüchlich, disruptiv. Und anders als häufig angenommen, kommt der wissenschaftliche Fortschritt auch nicht immer auf wissenschaftliche Weise zustande, in Wahrheit sogar fast nie. Galileo Galilei zum Beispiel gründete seine bahnbrechenden Thesen keineswegs auf ein stimmiges Theoriegebäude. Er hätte das, selbst wenn er gewollt hätte, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Methodenapparat auch gar nicht können. Trotz dieses schwerwiegenden theoretischen Defizits ist Galilei zu einem der wichtigsten Begründer der modernen wissenschaftlichen Rationalität geworden.
Paul Feyerabend, einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des vergangenen Jahrhunderts, würde sogar sagen: gerade deshalb. Denn neue Erkenntnisse, so der Kritiker des starren Denkens, können auf etablierte Methoden und Maßstäbe keine Rücksicht nehmen. Sie müssen über das Alte und Bekannte hinausgehen.
Extras:- Infokasten: Paul Feyerabend – Leben, Werk, Wirkung
- Literatur- und Linktipps: Die wichtigsten Werke von Paul Feyerabend und ein Gespräch mit dem Philosophen auf YouTube