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Mohammed Abdellaoui über Entscheidungsfindung
Mohammed Abdellaoui über Entscheidungsfindung

Selbstbewusstsein als schmaler Grat

​Vom Mittagessen bis zur Mondlandung: Führungskräfte haben Entscheidungen unterschiedlicher Tragweite zu treffen. Dabei gibt es eine Vielzahl an Faktoren, von denen abhängt, wie man entscheidet und welche Risiken man eingeht. Professor Mohammed Abdellaoui hat sich mit der Wissenschaft hinter Entscheidungen befasst und beleuchtet, wie sich Übermut auf Entscheidungen auswirkt – und warum ein wenig Selbstüberschätzung manchmal sogar nötig ist.

Herr Professor Abdellaoui, Sie haben sich in Ihrer Forschung mit dem Thema Selbstüberschätzung in der Entscheidungsfindung beschäftigt. Was verstehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denn unter Selbstüberschätzung?

Mohammed Abdellaoui: In der bestehenden Literatur gibt es drei gängige Formen. Zunächst gibt es Overestimation, die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder Leistungen, und Overplacement, der Vergleich der eigenen Leistungen mit denen anderer Menschen. Dann gibt es noch Overprecision, eine anspruchsvollere Definition von übermäßigem Vertrauen, die eher mit Unsicherheit zu tun hat. Mit dieser dritten Form haben wir uns in unserer Studie eher indirekt befasst und uns auf Overestimation und Overplacement konzentriert.

Was unterscheidet Selbstüberschätzung von gesundem Selbstbewusstsein?

Allgemein ausgedrückt steigert Selbstüberschätzung die Risikobereitschaft von Entscheidungsträgern. Da sie dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, treffen sie riskantere Entscheidungen in ihren Investitionen und Karriereschritten. Es gibt viele Fälle, in denen aus Selbstüberschätzung auch positive Dinge entstehen, wie beispielsweise die zu dem Zeitpunkt übermütige Entscheidung von John F. Kennedy, den Wettlauf zum Mond zu eröffnen – mit dem Ergebnis, dass die Astronauten der NASA tatsächlich als Erste auf dem Mond landeten. Doch im täglichen Leben, zum Beispiel bei der Entscheidungsfindung in Unternehmen, wird man eher Opfer der dunklen Seite der Selbstüberschätzung.

Wie zeigt sich denn diese dunkle Seite der Selbstüberschätzung?

Selbstüberschätzung wird dann schädlich, wenn man zu viele Risiken eingeht. Ein weiterer Aspekt, der darauf einzahlt und besonders bei der Entscheidungsfindung in Unternehmen schädlich sein könnte, ist die Tatsache, dass man konservativer denkt, wenn es um die eigenen Meinungen und Überzeugungen geht, je mehr man sich selbst überschätzt. Übermütige Menschen lassen sich nicht rational von neuen Meinungen oder Vorstellungen überzeugen, sondern bleiben dem, was sie bereits kennen, treu. Als Konsequenz dessen ist es für diese Menschen schwierig, aus Fehlern zu lernen und sich zu verbessern, was sich wiederum auf den Aufbau und die Arbeit in Teams auswirken kann. Selbstüberschätzung kann so also nicht nur der eigenen Karriere, sondern auch dem Unternehmen schaden. Personalabteilungen und Unternehmen müssen diese Dimension der Selbstüberschätzung bei Bewerbern im Blick haben, denn nur wenn man bereit ist, an sich zu arbeiten, kann man sich selbst stetig verbessern.

Professor Mohammed Abdellaoui ist als Forschungsleiter für Entscheidungswissenschaften an der HEC Paris ein Experte auf dem Gebiet der individuellen Entscheidungsfindung. Magali Delporte

Wenn Menschen eine ungewisse Entscheidung treffen müssen, reagieren sie dann mit mehr oder weniger Selbstbewusstsein?

In den vergangenen 30 Jahren in der Verhaltensforschung haben wir herausgefunden, dass Menschen, die unter ungewissen Umständen entscheiden, sich nicht nur auf ihre innere Einstellung verlassen. Ein sehr beliebtes Beispiel in der Forschung ist hierbei das sogenannte Ellsberg-Paradoxon: In zwei Urnen befinden sich je 100 Bälle, und bei einer Urne weiß man, dass sie 50 schwarze und 50 rote Bälle enthält. In der zweiten Urne sind ebenfalls 100 rote und schwarze Bälle enthalten, allerdings in einem unbekannten Verhältnis. Wenn man nun Menschen fragt, ob sie eher in der bekannten Urne oder der unbekannten Urne auf Schwarz setzen würden, neigen sie dazu, auf die bekannte Urne zu setzen, denn sie mögen die Ungewissheit nicht, die die Ziehung aus der unbekannten Urne umgibt – obwohl die Chance auf Schwarz bei beiden Urnen die gleiche ist. Das bezeichnet man auch als „Ambiguity Aversion“. Wir haben ein ähnliches Experiment in unserer Studie durchgeführt. Dabei konnten wir nachweisen, dass übermütige Menschen ihre Fähigkeit, mit unklaren Situationen umzugehen, eher überschätzen und häufiger Entscheidungen treffen, bei denen sie nicht alle Faktoren kennen. Im Gegensatz zum Unklarheit eher meidenden Durchschnitt suchen sie vermehrt das Risiko, was man in der Forschung auch „Ambiguity Seeking“ nennt.

Sie haben in Ihrer Studie ebenfalls erforscht, wie sich Optimismus und Pessimismus auf Selbstüberschätzung auswirken. Welchen Grad an Optimismus bräuchte es denn für gute Führung?

Das ist die Gretchenfrage. Es ist nicht möglich, einen allgemeinen Schwellenwert festzulegen, der auf alle Situationen angewendet werden kann, dafür ist das Thema viel zu komplex. Diese Komplexität haben wir auch in den zwei Experimenten bemerkt, die wir für unsere Studie durchgeführt haben: Im ersten Experiment sahen wir, dass die Menschen etwas zu zuversichtlich waren, als es darum ging, zu wetten, wie viel Prozent der Aufgaben, die wir ihnen gestellt hatten, sie wohl richtig beantwortet haben. Im zweiten Experiment baten wir die Leute zudem, ihre Leistung mit der von 100 anderen Teilnehmenden zu vergleichen, und haben dabei etwas Spannendes entdeckt.

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Was haben Sie Spannendes entdeckt?

In der Psychologie war es bislang eine gängige Erkenntnis, dass Menschen bei schweren Aufgaben eher übermütig sind und bei leichten Aufgaben ihre Leistung eher unterschätzen. Im Kontext unserer Studie fanden wir jedoch heraus, dass die Befragten ihr eigenes Abschneiden eher zu niedrig einschätzen, sobald sie sich mit den anderen Teilnehmenden vergleichen sollen. Das war bei leichten Aufgaben der Fall, aber auch bei schweren – bei diesen sogar deutlicher. Wenn nun also eine Entscheidungsträgerin eine schwere Entscheidung treffen muss, wissen wir nicht, ob sie sich dabei mit anderen Entscheidungsträgern vergleicht oder mit sich selbst. Das wiederum beeinflusst das Selbstbewusstsein, mit dem sie in die Entscheidung geht, und somit die Entscheidung selbst. Dabei ist es gerade dann, wenn man beispielsweise ein großes Projekt beginnt, tatsächlich ratsam, sich selbst und seine Fähigkeiten etwas zu überschätzen und mit Selbstbewusstsein an die Sache heranzugehen, auch wenn man nicht weiß, ob das Projekt von Erfolg gekrönt sein wird.

Haben Sie Tipps für Führungskräfte, die regelmäßig wichtige Entscheidungen treffen müssen, um ungewisse Situationen besser einzuschätzen und sie mit einem gesunden Selbstbewusstsein anzugehen?

Das Wichtigste ist, Menschen mit relevanten Informationen zu versorgen. Das alleine reicht zwar nicht aus, aber es ist zwingend notwendig, wenn man Selbstüberschätzung bekämpfen möchte. Wir müssen ständig lernen und uns weiterentwickeln; das ist insbesondere bei Entscheidungen wichtig, die nicht alltäglich sind. Um auf das Beispiel der NASA zurückzukommen: Als sie das Apollo-11-Programm gestartet haben, mussten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unzählige Tests zur Verlässlichkeit und Ausfallsicherheit durchführen, um die Selbstüberschätzung von John F. Kennedy zu bekämpfen, der das Projekt ins Leben gerufen hat – denn auch wenn er die Meinung von Experten mit einbezogen hat, die Entscheidung, zum Mond zu fliegen, war eine politische Entscheidung und aus wissenschaftlicher Sicht überstürzt.
Zudem muss man Menschen beibringen, neuen Informationen gegenüber offen zu sein. Wenn ich aus meiner Urne zehn Bälle ziehe, neun davon schwarz sind und nur einer rot ist, würden aufgeschlossene Menschen die Chance, aus der Urne einen schwarzen Ball zu ziehen, auf deutlich über die Hälfte schätzen. Doch bei Menschen, die sich selbst überschätzen, kann es sein, dass sie neue Informationen nicht verarbeiten oder ignorieren und es vorziehen, bei ihrer ursprünglichen Einschätzung zu bleiben – auch wenn sie damit danebenliegen.

Die Studie von Professor Abdellaoui (in englischer Sprache) ist hier herunterzuladen: msmagazin.info/315Selbstüberschätzung.

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