Gunter Maier in Speakers Corner
Gunter Maier in Speakers Corner

„Leadership wird zu sehr vom Zeitgeist beherrscht“

​Führung bedeutet: Die Handlungen der Mitglieder einer Organisation werden so koordiniert, dass sie der Organisation dienen. Wie aber gelingt das? Dem Zeitgeist zufolge wird meist nur ein einzelner Steuerungsmechanismus als Heilsbringer überhöht, sei es ehemals die Macht oder sei es in jüngerer Zeit die Motivation von Mitarbeitenden. Ein Fehler, findet Gunter Maier. Denn nur, wer sich eines Spektrums verschiedener Steuerungsmechanismen mit Bedacht bedient, kann gute Führung leisten.​

Wie alle sozialen Systeme sind Organisationen per se komplex, sobald sie eine gewisse Größe erreicht haben. Das war schon immer so. Doch die Komplexität hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte vergrößert. Ein Haupttreiber für die gestiegene soziale Komplexität ist unsere offene, freie Gesellschaft. Die Menschen haben heute viel weitreichendere Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten als in früheren Zeiten. Sie haben beispielsweise die freie Berufs- oder Arbeitsgeberwahl, ein Umstand, der, historisch betrachtet, vor noch nicht allzu langer Zeit eher unüblich war.

Die Crux eines hochkomplexen sozialen Systems besteht in der Kunst, dieses zu steuern. Klar ist, dass es in einem solchen System nicht darum geht, jedem Individuum vorzuschreiben, wie es sich zu verhalten hat. Wäre dies der Fall, befände man sich schnell in einem unfreien System. Die Kunst der Steuerung in einem freien System besteht vielmehr darin, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer die Individuen ihre Freiheiten ausleben können, ohne dabei das System und dessen Fortbestand zu gefährden. Für eine Organisation bedeutet dies: Sie muss die Handlungen der Systemmitglieder koordinieren und dabei die Freiheiten möglichst (organisations-)zweckfördernd nutzen.

In ihrem Alltag erleben viele Führungskräfte allerdings dann etwas sehr Frustrierendes: Wenn sie eine Maßnahme ergreifen, um etwa einen Missstand zu beheben, entstehen an anderen Stellen nicht selten zwei neue Probleme – weil die wechselseitigen Auswirkungen nicht mitbedacht worden sind. Die Gefahr ist groß, dass die Verantwortlichen angesichts dessen irgendwann kapitulieren und danach streben, die (oft selbst verursachte) Komplexität zu reduzieren. Dann werden oft repressive Maßnahmen ergriffen, die aber im Nebeneffekt freie kreative Kräfte abwürgen.

Aus meiner Sicht steckt ein elementares Problem hinter solchen Dynamiken: Das Thema Steuerung wird viel zu einseitig betrachtet. Man agiert so, als gäbe es nur eine wirkungsvolle Art, Steuerung in Organisationen auszuüben, der gegenüber dann alle anderen Arten in den Hintergrund rücken. Dabei zeigt die Forschung, dass es vier große sozio-emotionale Mechanismen gibt, über die soziale Systeme und die Menschen in ihnen beeinflusst werden können – und zwar, ohne dass die Führungskraft, die sich ihrer bedient, zwingend in direkten Kontakt zu den Organisationsmitgliedern treten muss.

Der erste Mechanismus ist Macht. Bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts war sie der dominierende Steuerungsmechanismus in Organisationen. Doch Macht ist ein zweischneidiges Schwert. Bei der Machtausübung besteht immer die Gefahr, dass man eine (informale) Gegenmacht aufbaut. Übertreibt man den Machteinsatz oder setzt ausschließlich auf diesen Mechanismus, bringt man irgendwann die Menschen gegen sich auf, auch wenn sich die Reaktion in modernen Organisationen meist relativ geräuschlos manifestiert. Man zettelt dort keine Revolution an, sondern verlässt das System und geht zu einem anderen Arbeitgeber. Weil man die Freiheit dazu hat. Macht lähmt zudem die kreativen Entwicklungskräfte des Systems, denn die Individuen werden in einer latenten Unsicherheit bis hin zur ständigen Angst gehalten, und das bindet ihre kognitiven Ressourcen.

Der zweite Mechanismus sind „Wahrheiten“. Mit der Absicht, die gesellschaftliche Komplexität zu reduzieren, entwickelte Edward Bernays Anfang des 20. Jahrhunderts das Konzept der Propaganda. Bernays erkannte, dass Gesellschaften, die immer freier werden, über die öffentliche Meinung gesteuert werden können bzw. müssen. Propaganda hat heute eine negative Konnotation, da sich nicht zuletzt die Nationalsozialisten ihrer eifrig bedienten. Im Grunde geht es um die Erzeugung von kollektiven subjektiven „Wahrheiten“, genauer gesagt um die Erzeugung der einen subjektiven „Wahrheit“, die dazu dient, unter Individuen Konformität herzustellen, um dadurch große Gruppen steuern zu können. In modernen Organisationen nennt man das PR oder Marketing. Doch auch im Innenverhältnis findet der Mechanismus Anwendung: Moderne Hochglanz-Unternehmensbroschüren, die Leitbilder, Visionen und Werte propagieren, sollen die Mitarbeiter beeindrucken. Das Problem liegt, wie auch bei der Macht, im übermäßigen und unreflektierten Einsatz des Mechanismus. Organisationsmitglieder schütteln immer wieder den Kopf, wenn sie feststellen, dass das Propagierte nicht mit dem übereinstimmt, was sie täglich in ihrer Organisation erleben.

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Der dritte Steuerungsmechanismus ist Motivation. Kapitalistische Gesellschaften setzen auf diesen, auf der Freiheit des Handelns beruhenden Mechanismus, um Selbststeuerungskräfte freizusetzen. Die Mitglieder der Gesellschaft handeln nach individuellen Motiven und setzen dabei Handlungsenergie und Kreativität frei – von denen wiederum die gesamte Gesellschaft profitiert, da die Summe der Handlungen gesellschaftlichen Fortschritt nach sich zieht. Auch Motivation ist nicht unproblematisch. Denn ein Zuviel an Freiheiten kann dazu führen, dass einige Individuen andere übervorteilen. Motivation bedarf daher immer eines Regelwerkes, das den Egoismen der Individuen Grenzen setzt. Auch in Organisationen ist Motivation ein zweischneidiges Schwert. Wird überwiegend darüber gesteuert, kann sich ein Anspruchsdenken herausbilden, das vor allem in Krisenzeiten ernsthafte Probleme bereiten kann – wenn viele keine Härten mehr hinnehmen wollen und stattdessen lieber zur Konkurrenz wechseln.

Der vierte – und komplizierteste – Mechanismus ist Vertrauen. Vertrauensaufbau ist ein langwieriger, mühsamer Prozess. Ist das Vertrauen (in Personen oder Systeme) aber erst einmal etabliert, reduziert dies die soziale Komplexität enorm und erleichtert dadurch die Führung des Systems. Denn die Individuen hinterfragen dann nicht ständig alles und jeden. Durch inkonsequente Führungsarbeit, die Überdehnung des Wahrheiten- oder Machtmechanismus kann Vertrauen allerdings schnell in Misstrauen umschlagen. Viele setzen dann einen erheblichen Teil ihrer kognitiven Ressourcen nur noch dafür ein, alles zu hinterfragen, und durch die grassierenden Zweifel explodiert die soziale Komplexität förmlich.

Da alle vier Steuerungsmechanismen interdependent sind und da sie alle mit ihren eigenen Vor- und Nachteilen behaftet sind, sollten sie auch alle Beachtung finden – und mit Bedacht genutzt werden. Denn fehlt Macht, besteht die Gefahr der Anarchie. Fehlt Motivation, beraubt sich die Organisation ihrer Entwicklungskräfte. Fehlt Vertrauen, nutzen die Mitglieder ihre kognitiven Ressourcen anderweitig. Vernachlässigt man die öffentliche (interne) Meinung, werden sich andere ihrer bedienen und Störungen ins System bringen. Die ausgewogene Mischung ist also entscheidend, denn nur so kann das soziale System in Balance gehalten werden.

Leider aber misslingt diese Mischung oft, weil der jeweilige Zeitgeist Führungskräfte dazu verleitet, nur einem Steuerungsmechanismus den Vorzug zu geben. Während dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts die institutionelle Macht war, galt später die Motivation als Heilsbringer. Vertrauen wurde dagegen stets nur marginal thematisiert, wenngleich einige Theoretiker das Vertrauen als wirksamen Steuerungsmechanismus aktuell wiederentdeckt haben. Die Nutzung von propagierten „Wahrheiten“ als Steuerungsinstrument ist in Zeiten von Fake News unterdes fast schon tabu – wobei das Instrument unter der Oberfläche im regen Einsatz ist.

Man muss den Zeitgeist beachten, aber man sollte nicht alles an ihm ausrichten. Dass er sich ständig verändert, ändert nichts an den grundsätzlichen Wirkungen der vier sozio-emotionalen Mechanismen. Man sollte sie kennen und (situativ) klug nutzen, statt nur einem davon den Vorzug zu geben.

<strong>Gunter Maier ...</strong>

Gunter Maier ...

... ist studierter Betriebswirt und Sozialwissenschaftler, und war lange Leiter der Aus- und Weiterbildung eines internationalen Unternehmens. Heute liegt sein Tätigkeitsfokus auf der Entwicklung von Führungskräften. In seinem im Selbstverlag erschienenen Buch „Die unsichtbare Handschrift der Strategie“ (2022) führt er seine Thesen zur Steuerung komplexer sozialer Systeme näher aus. Kontakt: www.xing.to/GunterMaier

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