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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Gunter Dueck aus managerSeminare 299, Februar 2023
In einem früheren Abschnitt meines Berufslebens war ich einmal CTO, also Chief Technology Officer. Diese Rolle sieht vor, dass man mit absolut jedem Amtsträger auf Augenhöhe klarkommt. Ich bat deshalb mein Unternehmen, in eine externe Schulung für General Manager geschickt zu werden, damit ich – nicht zuletzt durch das Beobachten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer – verstehe, was diese als meine Kunden so alles bewegt. Doch ich schien etwas Unverschämtes gefragt zu haben. Aus dem Gesicht meines Chefs sprach der unausgesprochene Vorwurf: „Oh, Sie beanspruchen Privilegien?“ Peinliche Stille. Dabei hätte mein Chef den Antrag von sich aus vielleicht sogar bewilligt. Aber: Dafür gab keinen Prozess im Unternehmen.
Warum ich von diesem persönlichen Erlebnis hier erzähle? Aktuell hört man viele Personalfachleute lautstark über den Fachkräftemangel klagen. Und in der Tat: Es fehlt an Fachkräften. Dafür gibt es viele Gründe, aber über einen wird selten gesprochen: Fachkräfte – im Sinne von wirklichen Könnern beziehungsweise „Meistern ihres Fachs“ – werden in den meisten Unternehmen nicht wirklich wertgeschätzt, geschweige denn, dass sie verstanden werden. Ja, sie werden noch nicht einmal erkannt oder gesucht.
Wieso, werden Sie jetzt vielleicht fragen: „Unternehmen überschlagen sich doch derzeit, was die Suche nach Fachkräften angeht?“ Nominell stimmt das auch. Doch mein Eindruck ist: Gesucht werden in Wahrheit keine Fachkräfte. Gesucht werden Mitarbeitende, die so sind wie die Hauptverwaltungsmitarbeitenden sind: zuverlässig, genau, analytisch, extrem gut in Sachen Planung, kostenbewusst. Oder es werden Menschen gesucht, die so sind wie das Leadership-Personal: forsch, engagiert, kommunikativ, anspornend. Meister und Könner ihres Fachs sind aber oft nicht so. Sie sind, gerade wenn es sich um technische Fachleute handelt, manchmal etwas nerdig.
Damit aber können die Prozesse, in die Beurteilungen jeglicher Art in Unternehmen üblicherweise gegossen werden, nichts anfangen. Diese Prozesse (bzw. diejenigen, die sie machen) haben kein Verständnis für Könnerschaft. An Meisterschaft in einem Fach gehen sie glatt vorbei. Sie kennen nur Zahlen und Stempel. Für wessen Einstellung sorgen die Prozesse folglich? Für die von Prozessknechten.
Läuft es noch einigermaßen gut, impliziert dies die Einstellung von Menschen mit Erfahrung und Wissen. Die Unternehmen verwechseln Könner nämlich zum einen mit Gesellen, also Personen, die einfach nur erfahren sind. Und daran liegt es dann auch, dass manche Organisation lieber öffentlichkeitswirksam mehrere Tausend neue IT-Fachkräfte einstellt, statt sich die Mühe zu machen, hundert Topleute zu finden (und zu halten), die letztlich mehr bewirken könnten. Zum anderen verwechseln sie Könner mit Experten, also mit Menschen, die vor allem die Kernkompetenz haben, auch ohne googeln viel zu wissen. Plakativ gesagt, wird auf den üblichen Prozesswegen der Unternehmen also eher der kenntnisübersprudelnde Restaurantkritiker für die Küche engagiert (und gefördert) als ein guter Koch. Außerdem neigen viele Unternehmen immer noch dazu, vor allem Managementtätigkeiten hoch zu achten, alles andere dagegen nicht. Als ob ein Unternehmen heute nur ein gutes unternehmerisches Management bräuchte und nicht auch fachliche Meister-Mannschaft, um seine Zukunftsfähigkeit zu sichern!
Es ist zum Verzweifeln. Und das Phänomen ist ein sehr breites: Wir versteifen uns derzeit gesellschaftlich aus meiner Sicht viel zu sehr auf die sogenannte Wissensgesellschaft. Ja, ich weiß, es geht in unseren Bildungssystemen auch um Kompetenzen. Doch diese scheinen auch dort häufig eher mit Fachverstand gleichgesetzt zu werden als mit Könnerschaft. Was daraus folgt, ist nicht nur eine uninspirierte, mutlose, Standard-Prozess-fixierte Einstellungspolitik von Unternehmen, sondern auch eine alles andere als „artgerechte Haltung“ von Könnern und Meistern ihres Fachs.
Meister müssen üben. „Übe so hart, als seiest du selbst für die Entwicklung deiner Kunst verantwortlich“, so etwa klingt es bei Musashi, dem größten Samurai. Doch darf man heute in den Unternehmen üben? Nein, darf man nicht. Man darf noch nicht einmal gescheit lernen, sondern geht durch eine profitarme Training-on-the-Job-Phase, heißt: Man bringt sich das Nötigste selbst bei und schaut sich etwas von anderen ab, die es sich selbst beigebracht haben. Daher kommt man nicht einmal entfernt in Berührung mit Meisterschaft.
Niemand nimmt an, dass sich ein Haufen Menschen selbst Fußball beibringen kann; schon die Bambini werden fachkundig trainiert: Sie üben (wer ein Meister werden will) und werden von Talent-Scouts gefördert. Musiker gehen in Meisterklassen, vorher wird das nichts mit dem Erfolg. Ich habe aber noch keine „Meisterklassen“ in Unternehmen gesehen. Höchstens „Accelerator Programs“, wenn es gerade brennt, weil es wegen zu vieler Burnouts an Nachwuchs fehlt. Und wehe, man ist schon ein Meister – dann stellt man sich fast automatisch über die maßregelnden Prozesse, so wie Ronaldo oder Lewandowski über das ausgeheckte System des Systemtrainers. Insbesondere Thomas Müller spielt so genial, dass er in kein System passt. Darf er dann überhaupt spielen? In den meisten Firmen dürfte er nicht.
Kennen Sie die Wagner-Oper „Meistersinger von Nürnberg“? Dort obsiegt schließlich die authentische Meisterschaft über das perfekt-geschliffen-regelgetreue Standardsingen – und damit auch über den extrem regelkonformen kleinlichen Kunstrichter Sixtus Beckmesser, der nur Vorschriften gelten lässt und keinen Begriff von Kreativität hat. So schön geht es aber nur in der Oper aus. In den Unternehmen finden wir Beckmesser-Prozesse, wohin wir auch schauen. Die Beckmesser-Prozesse regeln betonhart das Mittelmaß. Oder, richtiger: Sie erzwingen Mittelmaß, wo wir eigentlich anderes brauchen würden.
Ich versuche schon seit drei Jahrzehnten, ein Bewusstsein für die „artgerechte Haltung“ von Meistern (insbesondere Techies) in Unternehmen zu wecken – bislang meist vergebens. Meister selbstständig arbeiten und entscheiden lassen? Um Himmels willen! Ihren Meisterwerken vertrauen, ohne Beckmesser-Prozesse? Ist nicht drin. Die Meister lernen und üben lassen, wie sie es brauchen? Wo kämen wir da hin! Sie auch mal zu einem Meister-Event zu lassen, dessen Ertrag für das Unternehmen nicht gleich offensichtlich ist? Da rollt das Management nur mit den Augen: „Das kostet zu viel, außerdem haben wir einen Umsatzausfall.“
Ich denke an einen Kundenbesuch zurück: Der CIO eines großen Konzerns brauchte ein neues Warenwirtschaftssystem – ein Riesenprojekt, meinte er, aber „es ist für meine Maestros zu langweilig“. Wir sollten die Anforderungen so stylen, dass alle großmeisterlichen Register der Meister gezogen werden müssten. Kurz gesagt: „Das wird teurer, aber dann haben sie Lust dazu, und es wird gut.“ Ich kam mit diesem Auftrag heim und musste lange suchen, bis jemand verstand, was gemeint war.
Was will ich sagen? Unternehmen sollten endlich anfangen, über Könner und deren Bedürfnisse nachzudenken. Und damit meine ich nicht bloß Leistungsträger und Überstundenrekordler! Die können gerne dazugesellt werden, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: Es braucht neue Einstellungspraktiken, neue Karrierepfade, ein neues Verhältnis zwischen Führungskräften und Könnern ihres Fachs.
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