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Übersicht AnsprechpartnerBeitrag von Andreas Zeuch aus managerSeminare 298, Januar 2023
Das Offensichtliche ist unsichtbar, nur die wenigsten von uns machen sich klar: Wir leben in einer halbierten Demokratie. Einer Demokratie, in der das demokratische Prinzip in einem wichtigen Bereich des Lebens – der Arbeitswelt – außen vor bleibt. Aus der obersten Führungsriege tönt es stattdessen oft: „Unternehmen sind keine demokratische Veranstaltung – und sollten das auch nicht sein!“ Während die meisten Argumente für diese These schon aus betriebswirtschaftlicher Sicht schwach sind, ist der Status quo einer undemokratischen Arbeitswelt auch noch aus einer anderen Richtung betrachtet sehr bedenklich. Ich bin überzeugt: Eine undemokratische Arbeitswelt schadet auch unserer Demokratie. Je demokratischer wir die Arbeit dagegen gestalten, desto leistungsfähiger und robuster wird auch unsere gesellschaftlich-politische Demokratie. Deshalb sollten wir uns auf den Weg machen, die Arbeit und unsere Organisationen zu demokratisieren. Für diesen Schritt gibt es aus meiner Sicht drei Gründe:
Erstens leben wir in einem wirtschaftlichen System mit einer geldbasierten Tauschwirtschaft. Wir alle brauchen Geld, um unser Leben zu finanzieren. Dieses Geld müssen wir uns (wenn wir nicht zufällig ausreichend geerbt haben) selber verdienen. Ausbrechen können nur Einzelne zu einem hohen Preis und meist unter erheblicher Augenwischerei, indem sie zum Beispiel von der Großzügigkeit anderer abhängig sind, die sich selbst auf dem üblichen Wege der Erwerbsarbeit finanzieren. Wir können uns also nur äußerst bedingt gegen Arbeit entscheiden. Und deswegen müssen wir uns dem Common Sense der Arbeitsorganisation unterordnen und uns dort die Trennung von Denken und Handeln, Planung und Kontrolle gefallen lassen – wenn nicht gar noch Schlimmeres, wie die Aushebelung von Grundrechten, wie dem der Unantastbarkeit unserer Würde oder der freien Meinungsäußerung. Solange wir unsere Arbeitsverhältnisse anderen Regeln unterwerfen als unserem zivilgesellschaftlichen Beisammensein, bleibt unsere Demokratie bruchstückhaft.
Zweitens liegt das Problem in der Trennung der Personen, die den Gewinn in Unternehmen erwirtschaften, und denen, die darüber verfügen und entscheiden. Dies hat der amerikanische Ökonom Richard Wolff pointiert herausgearbeitet: Solange all diejenigen, die entweder direkt an der jeweiligen Wertschöpfung beteiligt sind (Programmiererinnen und Programmierer, Köchinnen und Köche, Näherinnen und Näher etc.), oder diejenigen, die die Arbeit der wertschöpfenden Kolleginnen und Kollegen ermöglichen und sicherstellen (Reinigungskräfte, Controllerinnen und Controller, Agile Coachs etc.), nicht selbst über den erzeugten Gewinn vor Steuern und dessen weitere Nutzung und Verteilung (mit)entscheiden, solange findet eine mehr oder weniger harte Form der Ausbeutung statt. Auch dadurch bleibt die Demokratie nach meinem Verständnis weit hinter dem zurück, was sie verspricht. Unternehmensdemokratie würde dagegen bedeuten, dass die Führung und Gestaltung von Organisationen allen interessierten Mitgliedern obliegt – wobei der wichtigste Aspekt die demokratisch gefällte Entscheidung über die Nutzung und Verteilung des gemeinsam erzeugten Gewinns vor Steuern ist.
Drittens stellt sich die Frage, wie unsere zivilgesellschaftliche Teilhabe überhaupt funktionieren soll, wenn wir im Alltag in fast allen Organisationen ein Arbeitsverhältnis eingehen, in dem wir Anweisungen zu folgen haben, im Zweifel abgemahnt werden und höchstens Brosamen des von uns Erwirtschafteten hingestreut bekommen? Wie soll eine positive demokratische Selbstwirksamkeitserwartung entstehen, wenn wir im Arbeitsleben nichts anderes als Verrichtungsgehilfinnen und -gehilfen bleiben? Wie sollen angesichts dessen demokratisch-dialogische Kompetenzen entstehen und ausgebaut werden – oder auch nur ein politisches Interesse? Wie sollen wir im ungleich komplexeren sozialen System unserer Gesellschaft mit Begeisterung demokratisch kompetent handeln, wenn wir dies beim täglichen Broterwerb nicht üben können, weil es uns untersagt ist? Dabei sind Organisationen wesentlich weniger komplex als unsere Gesellschaft. Demokratie wäre dort also viel einfacher.
Immerhin: Die Debatte ist eröffnet. Und technisch sind wir ohnehin längst in der Lage, selbst mehrere Hunderttausend Stimmen zu erheben, zu bündeln und auszuwerten, um zu gemeinsamen, demokratischen Entscheidungen zu kommen. Das ist die gute Nachricht. Gut ist auch, dass im Zuge neuer Arbeitsansätze zunehmend mehr Unternehmen demokratische Prinzipien leben, die auf eine Ermächtigung („Empowerment") der Mitarbeitenden abzielen – auch, wenn die entsprechenden Organisationen das nicht Demokratisierung nennen, sondern zum Beispiel agiles Arbeiten. Und auch, wenn in den meisten Fällen andere Gründe als die Sorge um unsere demokratische Gesellschaft dahinterstecken.
Schlecht aber ist: Bislang gehen erst die wenigsten Unternehmen in diese Richtung. Und selbst, wenn eine Mehrheit es täte, ist es – zugegebenermaßen – nicht allein damit getan, einzelne Organisationen zu demokratisieren. Denn am Ende des Tages stoßen fast alle Organisationsformen an die Grenzen rechtlicher Regulation, insbesondere Kapitalgesellschaften unterliegen gesellschaftsrechtlichen Kodifizierungen (GmbH-Gesetz, Aktiengesetz etc.). Somit müssen wir parallel auch hier neue Wege erschließen, neue Möglichkeitsräume öffnen.
Und: Neben der Unternehmens-, brauchen wir eine Wirtschaftsdemokratie. Das heißt, wir brauchen die demokratisch legitimierte Gestaltung aller ökonomischen Strukturen und Verfahren. Unternehmen müssen demokratisch legitimiert in die (Volks-)Wirtschaft integriert werden, und die Volkswirtschaft muss – demokratisch legitimiert! – in die größeren Systeme der Gesellschaft und Natur integriert werden. Dies impliziert auch regulatorische Maßnahmen, damit privatwirtschaftliche Gewinne nicht auf Kosten des Gemeinwohls erzeugt werden können, so wie das aktuell üblich ist.
Radikale Forderungen? Vielleicht. Aber wir stehen gesellschaftlich vor gewaltigen Herausforderungen, wie der Erderwärmung, dem Artensterben, der Vermüllung, der (dank der undemokratischen Gewinnverteilung!) Einkommens- und Vermögensungleichheit. Gleichzeitig ist die Demokratie zurzeit global angeschlagen, vielerorts ist ein immer stärker werdender Rechtspopulismus zu beobachten. Die Herkulesaufgabe, das alles sinnvoll zu bewältigen, können wir nur gemeinsam lösen. Doch dafür brauchen wir eine lebendige, gut entwickelte und fortlaufend lernende Demokratie, in der wir uns alle, wenn wir das wollen, mehr einbringen können als bislang. Neben vielen anderen sinnvollen und wichtigen Projekten ist die Demokratisierung der Arbeit dabei ein wichtiger Baustein.
Wir alle sind wie Fische im Wasser: Wir leben im Medium unserer Gesellschaft. Wir sind in die gegebenen Rahmenbedingungen hineingeboren und nehmen sie deshalb oft gar nicht erst wahr. Unsere Konditionen sind für uns viel zu alltäglich, zu „normal“, um sie infrage zu stellen. Die Art, wie wir unsere Organisationen aufbauen, ist längst Teil unseres kollektiven Unbewussten. Wir denken gar nicht erst darüber nach, dass die Dinge auch anders sein könnten. Wir sollten aufwachen. Und beginnen, Fragen zu stellen: Warum leben wir in einer halbierten Demokratie?
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