Reflexion

Psychologische Kompetenz im Coaching
Psychologische Kompetenz im Coaching

Wenn die Spitze des Eisbergs schmilzt ...

Nicht selten passiert es, dass sich während eines Coachings der Auftrag ändert und statt Fachwissen plötzlich psychologische Kompetenz vonnöten ist. Doch können Coachs überhaupt psychologische Hilfe leisten? Was ist dabei zu beachten? Und wie kann eine psychologische Begleitung aussehen? Antworten liefert Coach und Verhaltenstrainer Werner Katzengruber.

Speziell seit der Corona-Krise sind Coachs oft zur Anlaufstelle hilfesuchender Menschen geworden. Die Gründe, warum sich jemand an einen Coach wendet, sind unterschiedlich. Mag sein, dass es die Tabuisierung von Ohnmachtsgefühlen und Überforderung ist oder schlicht die Tatsache, dass die eklatante Unterversorgung mit Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die Menschen dazu bringt, jede verfügbare Hilfe anzunehmen. Fakt ist, dass sich in den vergangenen Jahren sowohl die Themen als auch die Klienten verändert haben. Überforderung, zerbrechende Familienstrukturen, Krisenerleben im privaten Umfeld sowie im Beruf sind heute nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Nicht selten verbirgt sich daher hinter dem Business Coaching einer Führungskraft eine Lebenskrise, die weniger mit den beruflichen Aspekten zu tun hat, sondern z.B. mit einer persönlichen Sinnkrise. Bei der Bearbeitung dieser Themen kommen Coachs dann nicht selten an einen Punkt, an dem sie nicht mehr weiterwissen: Durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit ist die Spitze des Eisbergs geschmolzen, und plötzlich werden intime Details an der Oberfläche sichtbar. Dann steht der Coach in seinem Selbstverständnis häufig an der Grenze zum Therapeuten und damit im Dilemma: Was darf ich, was kann ich, und wo sind die Grenzen?

Ich selbst stand erst kürzlich wieder an dieser Grenze: Herr M., Inhaber und Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens mit 1.200 Mitarbeitenden und rund 550 Mio. Jahresumsatz, beauftragte mich mit einem Coaching, in dem die Übergabe des Unternehmens an seinen Sohn bearbeitet werden sollte. Wir sprachen über evtl. auftretende Probleme mit seinen Führungskräften und wie er sich die Unterstützung seines Sohnes vorstellte. Während des Coachings kristallisierte sich jedoch immer mehr heraus, dass die Firmenübergabe mit dem Sohn noch gar nicht konkret besprochen worden war – mehr noch: Der Sohn wollte das Unternehmen nicht übernehmen. Und so kam es, wie es kommen musste: Herr M. fühlte sich erschöpft und diagnostizierte sich selbst eine „Midlife-Crisis“. War das jetzt noch ein Fall fürs Coaching?

Coaching versus Psychotherapie

Eigentlich grenzt der Begriff des Coachings die Arbeit eines Coachs bereits eindeutig von der Arbeit eines Psychotherapeuten ab. Einfach gesagt: Eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut arbeitet mit behandlungsbedürftigen Patienten, d.h., es liegt ein eindeutiges Krankheitsbild vor. Nun könnten sich Psychotherapeuten anhand der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme (ICD) oder des Klassifikationssystems der Psychiatrie (DSM) auf die gängigen Symptombeschreibungen zurückziehen und die Lebenskrisen, schmerzvollen Trennungen, existenziellen Ängste vor dem Verlust eines Arbeitsplatzes oder die Gefühle, Opfer eines Mobbings zu sein – hinter denen nicht zwingend eine behandlungsbedürftige Krankheit steckt – den Coachs überlassen. Auch der Wunsch nach einem sinnerfüllten Leben oder einer harmonischen Partnerschaft sind per se nicht als Krankheitsbilder definiert. Doch an dieser Stelle wird es oft kritisch. Am Ende geht es um zahlende Kunden, und es ist nur zu verständlich, dass die wirtschaftlichen Interessen auch bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine Rolle spielen. Zunehmend finden wir daher bei Psychotherapeuten den Zusatz, dass sie auch Coaching anbieten. So ist eine latente unterschwellige Konkurrenz zwischen Coachs und Psychotherapeutinnen zu spüren, die sich im Verteilungskampf um den zahlenden Klienten gegenseitig diskreditieren.

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